Quelle: HBS
Auf einen Blick: Soziale Ungleichheit in Deutschland
Steigt in einer Gesellschaft die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit, drohen soziale Spannungen und Spaltung. Wie ungleich ist Deutschland und was hilft dagegen? Unser Forschungsüberblick fasst die wichtigsten Ergebnisse unserer Studien zum Thema zusammen.
[Aktualisiert am 3.12.2024]
Inhalt
- Die Entwicklung der Ungleichheit der Einkommen in Deutschland
- Armut in Deutschland
- Auswirkungen der jüngsten Krisen und der hohen Inflation
- Ungleichheit der Vermögen in Deutschland
- Strukturelle Gründe für Ungleichheit
- Was Armut für Menschen bedeutet
- Gesellschaftliche Folgen hoher Ungleichheit
- Mittel gegen soziale Ungleichheit und Armut
Die Entwicklung der Ungleichheit der Einkommen in Deutschland
Die Armutsquote hat einen Höchststand erreicht. Zudem sind Arme während der 2010er-Jahre gegenüber anderen Einkommensgruppen wirtschaftlich noch weiter zurückgefallen. Von der insgesamt positiven Wirtschafts- und Einkommensentwicklung im vergangenen Jahrzehnt haben sie nur vergleichsweise wenig abbekommen - dies ist zusammengefasst das Ergebnis unseres aktuellen WSI-Verteilungsberichts aus dem November 2024.
- Der Gini-Koeffizient, der die Ungleichheit darstellt (siehe Infokasten) zeigt, dass die Einkommensungleichheit seit 2010 insgesamt zugenommen hat. Er lag im Jahr 2010 bei 0,28 und ist seitdem wellenförmig angestiegen. Die Einkommensungleichheit hat im Jahr 2021 mit einem Wert von 0,31 einen neuen Höchststand seit der Wiedervereinigung erreicht.
- Die zunehmende Ungleichverteilung der Einkommen zeigt sich auch, wenn man einen Blick auf die Entwicklung der Armuts- und Reichtumsquoten wirft. Der Anteil der Bevölkerung, der unterhalb der Armutsgrenze lebt, ist seit 2010 um mehr als drei Prozentpunkte auf 17,8 Prozent gestiegen und hat damit am aktuellen Rand einen Höchstwert erreicht. Der Anstieg vollzieht sich fast kontinuierlich über alle untersuchten Jahre hinweg. Der Anteil der Menschen in strenger Armut ist – relativ gesehen – noch stärker gestiegen als die Armutsquote (von 7,8 Prozent auf 11,3 Prozent).
- Am oberen Rand tut sich hingegen nur wenig. Sowohl die Quoten für Einkommensreichtum wie auch die für großen Einkommensreichtum liegen sehr konstant bei zumeist etwas unter acht Prozent bzw. bei knapp unter zwei Prozent.
- Diese Entwicklung wird auch von einem anderen Wert gestützt: Dem Einkommensquintilsverhältnis (s.u.), wie der Verteilungsbericht aus dem Vorjahr errechnet hatte: Von 2010 bis 2019 lag das Einkommen im obersten Fünftel meist 4,3 mal so hoch wie das im untersten. Dieser Wert ist 2020 auf 4,5 gestiegen, er lag 2021 beim 4,7-fachen und 2022 bei 4,6.
Ermittlung von Ungleichheit
Wie gleich oder ungleich die Einkommen verteilt sind, lässt sich über zwei statistische Maße ermitteln, die in der Wissenschaft häufig verwendet werden: Den so genannten Gini-Koeffizienten und das Einkommensquintilsverhältnis.
Der „Gini“ reicht theoretisch von null bis eins: Beim Wert null hätten alle Menschen in Deutschland das gleiche Einkommen, bei eins würde das gesamte Einkommen im Land auf eine einzige Person entfallen. Diese Bandbreite macht deutlich, dass auch vermeintlich kleine Änderungen des Koeffizienten erhebliche Bedeutung haben.
Der „Gini“ lässt sich sowohl für die Ungleichheit von Einkommen als auch für die Ungleichheit von Vermögen ermitteln. Letztere sind in Deutschland traditionell noch viel ungleicher verteilt als die Einkommen.
Zur Ermittlung des Einkommensquintilsverhältnisses werden die Einkommen der Bevölkerung nach der Höhe sortiert und fünf gleich große Gruppen gebildet. Verglichen wird dann das Einkommen des obersten Fünftels mit dem des unteren.
Armut in Deutschland
Wo beginnt Armut, wo Reichtum? Weil die gängigen Definitionen immer wieder kritisiert werden, haben Forscherinnen mit Unterstützung der Hans-Böckler-Stiftung die Grenzen neu vermessen. Sie haben sowohl Vermögen als auch Einkommen bei ihren Überlegungen berücksichtigt. Ihre empirischen Ergebnisse liegen nahe an den bisher geltenden Schwellen.
Einkommensarmut hat in den vergangenen Jahren laut unserem aktuellen WSI-Verteilungsbericht eindeutig zugenommen. Als arm gilt, wessen bedarfsgewichtetes Haushaltsnettoeinkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens in Deutschland beträgt. Sehr arm (Fachbegriff: „strenge Armut“) sind Personen, die nicht einmal 50 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung haben. Für einen Singlehaushalt entspricht das maximal 1200 bzw. 1000 Euro im Monat.
Im Jahr 2021 lebten nach SOEP-Daten 17,8 Prozent der Menschen in Deutschland in Armut, 11,3 Prozent sogar in strenger Armut. Das heißt, sie hatten weniger als 60 beziehungsweise 50 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Nettoeinkommens zur Verfügung. Ein Singlehaushalt gilt damit als arm, wenn das Einkommen unter 1350 Euro im Monat liegt. Bei unter 1120 Euro wird von strenger Armut gesprochen. Je nach Personenzahl gelten für jeden Haushaltstyp andere absolute Armutsgrenzen – das verbirgt sich hinter dem Begriff „bedarfsgewichtetes Einkommen“.
2010 lag die Armutsquote noch bei 14,2 und die Quote strenger Armut bei 7,8 Prozent. Seitdem sei die Armutsquote mit gelegentlichen jährlichen Schwankungen kontinuierlich angestiegen.
Überdurchschnittlich oft von Armut betroffen sind Arbeitslose, Minijobber*innen, Ostdeutsche, Frauen, Alleinerziehende, Menschen mit Zuwanderungsgeschichte, Singles und Menschen, deren Schulabschluss maximal einem Hauptschulabschluss entspricht.
Auswirkungen der jüngsten Krisen und der hohen Inflation
Die Coronakrise und der Krieg in der Ukraine haben in Deutschland auf dem Arbeitsmarkt und bei den Einkommen der Bevölkerung geringere Schäden angerichtet, als angesichts der starken wirtschaftlichen Schocks zu erwarten gewesen wäre – dank Kurzarbeit, Unterstützungszahlungen und Energiepreisbremsen. Dies ist das Ergebnis einer aktuellen IMK-Analyse zur Qualität der Wirtschaftspolitik der vergangenen Jahre.
Jedoch: Die offiziellen Zahlen zur Ungleichheit zeigen nicht komplett die Auswirkungen der hohen Inflation in den vergangenen Jahren. Diese ist zuletzt endlich wieder zurückgegangen. Doch dass die Inflation ärmere Haushalte 2022 und 2023 überwiegend stärker belastete, konnte unser IMK mit seinem regelmäßigen Inflationsmonitor zeigen, der monatlich aktualisiert wird. Er beleuchtet verschiedene Haushaltstypen und ihre finanzielle Belastung durch die Teuerung. Da insbesondere Güter des täglichen Verbrauchs wie Lebensmittel und Energie die Inflation getrieben haben und einkommensschwächere Haushalte für diese Waren größere Teile ihres verfügbaren Geldes ausgeben müssen, war ihre Belastung über lange Zeit höher.
Ungleichheit der Vermögen in Deutschland
Bereits vor der Coronakrise waren in fast keinem anderen Land in Europa Vermögen so ungleich verteilt wie in Deutschland. In den meisten Statistiken wird das wahre Ausmaß noch unterschätzt.
Das reichste Hundertstel der deutschen Haushalte verfügt nach den üblichen Statistiken über etwa zwei Billionen Euro. Tatsächlich könnten es dreieinhalb Mal so viel sein. Doch es gibt Schwierigkeiten bei der Erfassung des Reichtums.
Die Vermögen superreicher Haushalte in Deutschland dürften weitaus größer sein als in Forschung, Medien und Öffentlichkeit angenommen. Allein die mehr als 200 Milliardenvermögen im Land könnten zusammengerechnet statt rund 900 Milliarden Euro mindestens 1400 Milliarden Euro umfassen, möglicherweise sogar noch deutlich mehr. Das ergibt eine neue, von uns geförderte Studie.
Die Untersuchung zeigt auch: Wichtige Steuersätze zur Besteuerung der Erträge aus Milliardenvermögen sind seit 1996 deutlich gesenkt worden. Neben der Aussetzung der Vermögensteuer hat sich beispielsweise der Steuersatz auf nicht ausgeschüttete Gewinne seit 1996 in etwa halbiert.
Strukturelle Gründe für Ungleichheit
Wer arm ist, ist selbst schuld, und jede*r kann es schaffen, wenn er sich anstrengt? Solche Vorurteile halten sich hartnäckig. Natürlich gibt es beeindruckende Beispiele für sozialen Aufstieg. Doch im Großen und Ganzen sind die Gründe für Ungleichheit und Armut struktureller Natur und liegen nicht in der Verantwortung der Betroffenen. Sie lassen sich daher auch nur politisch grundsätzlich lösen. Dazu mehr weiter unten. Folgende Aspekte tragen unter anderem zu Ungleichheit bei:
- Ein dysfunktionaler Arbeitsmarkt: Der Anteil der Menschen, die trotz regelmäßiger Arbeit in Armut leben, ist nach der Jahrtausendwende gestiegen. Rund acht Prozent der Erwerbstätigen in Deutschland waren im Jahr 2019 von Armut betroffen, sie waren also arm trotz Arbeit. Und unter allen Armen haben drei von zehn Menschen regelmäßig gearbeitet. Das liegt unter anderem an der gewachsenen Bedeutung des Niedriglohnsektors. Erst spät hat die Politik gegengesteuert, etwa mit dem Mindestlohn.
- Überdurchschnittlich häufig von Armut betroffen sind Frauen, insbesondere alleinerziehende. Denn bei der Gleichstellung von Frauen und Männern im Arbeitsleben gibt es zum Teil noch erhebliche Mängel. Das geht aus einem aktuellen Überblick unseres WSI hervor. Die Ergebnisse zeigen, dass Geschlechterungleichheit – insbesondere mit Blick auf die Erwerbsquote, die Arbeitszeit und die Einkommen – über fast alle Branchen hinweg besteht.
- Die Tarifbindung geht seit Jahren zurück. Nur noch für gut die Hälfte der Beschäftigten gilt ein Tarifvertrag. Doch ohne Tarifvertrag sind die Arbeitsbedingungen deutlich schlechter: Vollzeitbeschäftigte in tariflosen Betrieben arbeiten im Mittel wöchentlich 54 Minuten länger und verdienen trotzdem 11 Prozent weniger als in vergleichbaren Betrieben mit Tarifbindung.
- Wohnungsmangel: Fast 13 Prozent der Mieterhaushalte in deutschen Großstädten haben nach Abzug der Miete weniger als das Existenzminimum zur Verfügung. Besonders für Menschen mit geringen Einkommen gibt es in Großstädten viel zu wenig bezahlbaren Wohnraum.
- Ein abgespeckter Sozialstaat: Wer arbeitslos ist oder nach langen Jahren der Erwerbstätigkeit durch eine zu kleine Rente in die Altersarmut rutscht, spürt die Defizite der finanziellen Grundsicherung in Deutschland besonders deutlich.
- Steuersenkungen für Reiche: Sie haben keinen positiven Effekt auf das Wirtschaftswachstum oder die Arbeitslosigkeit. Aber sie vertiefen die Ungleichheit. Ganz im Sinne der Trickle-Down-Theorie sind die Spitzensteuersätze auf Einkommen in den Industriestaaten in den vergangenen Jahrzehnten deutlich gesenkt worden, von durchschnittlich etwa 60 Prozent Anfang der 1980er-Jahre bis auf unter 40 Prozent heute. Darauf weisen David Hope und Julian Limberg vom King’s College London hin. Die Politikwissenschaftler haben untersucht, wie sich solche Steuerentlastungen tatsächlich auswirken. Das Ergebnis: Sie machen die Gesellschaft ungleicher, nützen makroökonomisch aber nichts.
- Große Vermögen werden von der Erbschafts- und Schenkungssteuer weitgehend verschont. In den vergangenen Jahren sind große Vermögen in Milliardenhöhe übertragen worden, von denen nur ein Bruchteil steuerpflichtig war, zeigt unser IMK. Das ist zur Sicherung von Arbeitsplätzen nicht notwendig, verschärft aber die Ungleichheit.
Was Armut für Menschen bedeutet
Ein zentraler Grundsatz unserer Gesellschaft ist, dass niemand vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen sein darf und dass ein Mindestmaß an Teilhabe für alle gesichert sein muss. Dieser Anspruch umfasst den materiellen Lebensstandard ebenso wie kulturelle und politische Dimensionen.
Armut bedeutet selbst in einem reichen Land wie der Bundesrepublik, dass dieser Grundsatz nicht eingelöst wird - und für die Betroffenen oft alltägliche Entbehrungen. Arme und Reiche leben in Deutschland bei Sorgen, Lebenszufriedenheit und Blick auf ihre Umwelt oft in zwei Welten. Auch dies zeigt unser neuer Verteilungsbericht.
- Schon 2021, also vor dem Beginn der Inflationswelle, hatten mehr als 40 Prozent der Armen und über 20 Prozent der Menschen in der Gruppe mit prekären Einkommen etwas oberhalb der Armutsgrenze keinerlei Rücklagen, um kurzfristige finanzielle Notlagen zu überbrücken. Rund zehn Prozent der Armen waren zudem finanziell nicht in der Lage, abgetragene Kleidung zu ersetzen.
- Knapp 17 Prozent konnten sich Freizeitaktivitäten wie einen Kinobesuch im Monat oder den Besuch einer Sportveranstaltung nicht leisten. Knapp 14 Prozent fehlte das Geld, um wenigstens einmal im Monat Freunde zum Essen einzuladen. Bereits im Jahr vor der großen Teuerungswelle war neue Kleidung unerschwinglich für 17 Prozent der Menschen, die „dauerhaft“, also über fünf oder mehr Jahre, unter der Armutsgrenze lebten.
- Unter den Menschen, die 2021 arm waren, aber nicht in durchgehend in allen vier Jahren zuvor („temporäre Armut“), konnten sich gut acht Prozent keine neuen Anziehsachen leisten. Knapp 59 Prozent der dauerhaft und gut 34 Prozent der temporär Armen hatten keinerlei finanzielle Rücklagen.
Die Zahlen zeigten, dass einerseits auch vorübergehende Armut nicht selten zum Verzicht auf grundlegende Gebrauchsgüter zwingt. Andererseits machten sie deutlich, wie stark die alltäglichen Probleme wachsen, wenn sich Armut verfestigt. Immerhin mehr als vier Prozent der dauerhaft Armen fehlte schon im Jahr vor der Energiepreisexplosion das Geld, die Wohnung angemessen zu heizen, fünf Prozent konnten nicht einmal neue Schuhe kaufen.
Je nach Einkommen zeigen sich auch deutliche Unterschiede in Bezug auf das Erleben von Wertschätzung beziehungsweise Geringschätzung. Gut 24 Prozent der dauerhaft Armen geben an, dass andere auf sie herabsehen. Dagegen nehmen das weniger als 14 Prozent der temporär Armen, 8 Prozent der Personen mit mittleren Einkommen und kaum mehr als 3 Prozent der Einkommensreichen so wahr, zeigte der Verteilungsbericht aus dem vergangenen Jahr.
Mit Armut gehen oftmals soziale Desintegration und politische Entfremdung einher, was auch für die Nicht-Betroffene und für die Gesellschaft insgesamt immer mehr zum Problem wird. In unserem Podcast haben Dorothee Spannagel und Bettina Kohlrausch vom WSI anlässlich unseres Verteilungsberichts aus dem Jahr 2022 diese Folgen näher beleuchtet.
Gesellschaftliche Folgen hoher Ungleichheit
Die Furcht vor einem Auseinanderdriften der Gesellschaft in Deutschland hat im Sommer einen neuen Höchststand erreicht. 48 Prozent der Erwerbspersonen machen sich große Sorgen um den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Das sind mehr als zu jedem anderen Zeitpunkt seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine oder während der Corona-Pandemie. Dies geht aus der Erwerbspersonenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung hervor, für deren aktuelle Welle im Juli gut 5000 Erwerbstätige und Arbeitssuchende interviewt wurden.
Der Verteilungsbericht von 2023 beobachtet auch eine Entfremdung unterer Einkommensklassen von der Gesellschaft, aber auch vom politischen System. Es zeigt sich eine deutliche Korrelation zwischen Einkommenshöhe und geringem Vertrauen in staatliche und demokratische Institutionen.
Unsere neuesten Daten zeigen: Während in der oberen Mittelschicht immerhin 52 Prozent der Menschen die Einschätzung äußern, sie hätten die Möglichkeit, auf die eigenen Anliegen aufmerksam zu machen, sind es bei den Armen nur 44 Prozent. Der Zuschreibung, „die regierenden Parteien betrügen das Volk“ stimmen mehr als ein Drittel der Menschen in Armut und mit prekären Einkommen zu, während das in der oberen Mitte etwas mehr als ein Viertel so sieht. Von den Armen erklären knapp 20 Prozent, bei der nächsten Bundestagswahl nicht wählen gehen zu wollen. Mit steigendem Einkommen sinkt der Anteil – bis auf knapp elf Prozent in der oberen Einkommensmitte. Arme entwickelten eine erhebliche – und bedenkliche – Distanz zur Demokratie.
Wenn die ärmeren Schichten wirtschaftlich zurückfallen, bekommen rechtsradikale Parteien bei Wahlen Aufwind. Das zeigt eine internationale Vergleichsstudie.
Wie verändert sich das Vertrauen in die Demokratie, wenn Abstiegsängste bis in die Mittelschicht ausstrahlen? Moderator Marco Herack hat darüber mit WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch und den Forscher*innen Dorothee Spannagel und Jan Brülle in unserem Podcast gesprochen:
Mittel gegen soziale Ungleichheit und Armut
Armut und Ungleichheit sind keine Naturgesetze und es mangelt nicht an substanziellen und umsetzbaren Handlungsempfehlungen für die Politik. Viele Menschen in Deutschland beklagen zudem zunehmende Ungleichheit und Abstiegsrisiken, zeigt eine Umfrage. Sie wünschen sich, dass der Staat stärker eingreift. 87 Prozent der Befragten hielten bereits vor der Corona-Krise das wachsende Gefälle zwischen Arm und Reich für gefährlich. Die Hans-Böckler-Stiftung hat in den vergangenen Jahren immer wieder Konzepte gegen Ungleichheit veröffentlicht:
- Tarifbindung stärken: Beschäftigte profitieren in mehrfacher Hinsicht, wenn für sie ein Tarifvertrag gilt, unter anderem erhalten sie im Schnitt deutlich höhere Löhne.
- Dies konnte man auch in den vergangenen Jahren beobachten: Einkommen, die Gesundheit und die Zukunftsperspektiven von Beschäftigten waren in der Coronakrise besser geschützt, wenn ihre Betriebe tarifgebunden und mitbestimmt sind, konnte unser WSI zeigen.
- Doch wie lässt sich die Tarifbindung stärken? Dafür gibt es verschiedene Ansatzpunkte, die unser WSI in einer Analyse zusammengefasst hat. Die Experten Martin Behrens und Thorsten Schulten schlagen diverse Ansätze der Revitalisierung „von unten“ und „von oben“ vor.
- Anhebung der Grundsicherung auf ein armutsfestes Niveau: Die Regelsätze der sozialen Grundsicherung müssen so weit angehoben werden, dass sie Einkommensarmut tatsächlich verhindern. Das sei beim Einstieg ins Bürgergeld nicht passiert, so die Autor*innen unseres aktuellen Verteilungsberichts.
- In bezahlbares Wohnen investieren: Bereits im Jahr 2018 gaben über zehn Prozent der Haushalte, die in Deutschlands Großstädten zur Miete lebten, mehr als die Hälfte ihres Einkommens für die Warmmiete aus. Fast die Hälfte musste dafür mindestens 30 Prozent aufwenden – ein Wert, der in Sozialforschung und Immobilienwirtschaft oft als Belastungsgrenze genannt wird. Aktuell dürfte die Zahl der Betroffenen noch deutlich höher liegen.
- Mehr und passendere Qualifizierungsmaßnahmen können für Menschen am Rande des Arbeitsmarktes die Teilhabemöglichkeiten nachhaltig verbessern.
- Ebenso wichtig ist die Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, um gerade jenen Menschen, meist Frauen, die sich verstärkt um Kinderbetreuung kümmern, auch eine Vollzeiterwerbstätigkeit zu ermöglichen.
- Soziale Infrastruktur und öffentliche Daseinsvorsorge stärken: Dazu zählen sie unter anderem ein gutes Quartiersmanagement, eine bessere Ausstattung des Bildungssystems, eine leistungsfähige Gesundheitsversorgung und einen gut ausgebauten ÖPNV. Solche Maßnahmen kämen allen zugute. Besonders wichtig seien sie aber für die Teilhabe der unteren Einkommensgruppen.
- Von der Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro haben viele Beschäftigte am unteren Lohnende profitiert, ohne, dass die von einigen befürchteten negativen Konsequenzen eingetreten wären.
- Doch in Zeiten hoher Inflation bedarf es einer ständigen Anpassung der Lohnuntergrenze. Mit der jüngst durch die Mindestlohnkommission – gegen die Stimmen der Gewerkschaften – beschlossenen Erhöhung um nur 41 Cent geht nun wiederum ein Kaufkraftverlust für einkommensschwache Familien einher.
- Bis zum 15. November 2024 musste die Europäische Mindestlohnrichtlinie in nationales Recht umgesetzt werden. Die Bundesregierung hat im Vorfeld bekannt gegeben, dass die Anforderungen der Richtlinie bereits durch bestehende Gesetze erfüllt seien und es aus ihrer Sicht keiner gesonderten gesetzlichen Änderungen bedürfe - eine „verpasste Chance“. Denn die Richtlinie liefert zum Beispiel fundierte Richtgrößen für einen angemessenen gesetzlichen Mindestlohn. Nach WSI-Berechnungen wären das in Deutschland aktuell 14,61 Euro und im kommenden Jahr 15,12 Euro.
- Besonders oft von Armut betroffen sind auch Kinder, jedes fünfte Kind wächst laut einer Studie in Deutschland in Armut auf. WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch fordert daher eine robuste Kindergrundsicherung, die wirklich armutsfest ausgestaltet. Dafür, so Kohlrausch, bräuchte es eine breite gesellschaftliche, aber auch methodische Debatte darüber, wie hoch das sozio-kulturelle Existenzminimum tatsächlich ist. „Der Anspruch, wenigstens dieses Minimum allen Kindern zu gewähren, sollte Grundlage der Berechnungen der Kosten einer solchen Leistung sein.“
- Handlungsbedarf gibt es auch bei der Erbschaftssteuer: Die letzte Reform hat den vom Verfassungsgericht erteilten Auftrag, die „Überprivilegierung großer Vermögen zu beseitigen“, nicht erfüllt, stellt IMK-Expertin Katja Rietzler fest. Wenn man sich nur geschickt genug anstelle, sei es weiterhin möglich, große Vermögen weitgehend steuerfrei zu übertragen. Die Privilegien bei der Übertragung großer Vermögen sind aus einer gesamtwirtschaftlichen Perspektive nicht notwendig und vor dem Hintergrund einer hohen Vermögensungleichheit nicht zu rechtfertigen, heißt es in einer aktuellen Analyse unseres IMK.
- Auch eine Vermögenssteuer wäre mit dem Grundgesetz vereinbar. Die Einführung ist nicht nur gut begründbar, sondern würde auch zur Verwirklichung grundlegender verfassungsrechtlicher Prinzipien beitragen. Zu diesem Ergebnis kommt ein von der Hans-Böckler-Stiftung gefördertes Rechtsgutachten.
- Bereits 2017 hatte unser IMK zudem eine umfangreiche Liste mit Strategien gegen die Ungleichheit vorgelegt. Kernelemente: Eine stärkere Beteiligung reicher Haushalte, eine Stärkung der Mittelschicht und eine nachhaltige Verringerung von Armut. Viele der Ideen mögen derzeit politisch aktuell zwar nicht durchsetzbar sein, bleiben aber richtig, etwa ein dynamischerer Mindestlohn, der die Inflation der vergangenen Zeit kompensiert und eine umfangreichere Erbschaftssteuer.