Quelle: Karsten Schöne
StipendienAltstipendiat: Professor Mitbestimmung
Walther Müller-Jentsch ist der Doyen der soziologischen Forschung zu Mitbestimmungsthemen. Das Handwerkszeug lernte er unter anderem bei Habermas und Adorno. Von Kay Meiners
Von Düsseldorf, der Stadt, in der Walther Müller-Jentsch 1935 geboren wurde, hat er zwei Bilder im Kopf. Das erste Bild, aus seiner Jugend, sind die Mietskasernen und Industrieschlote des Arbeiterviertels Lierenfeld, wo man lernt, dass die kleinen Leute „ohne die Gewerkschaften nichts zu lachen haben“, wie ihm der Vater, ein Schlosser, mitgibt. Als junger Mann will Müller-Jentsch diesem Milieu entfliehen. Aufgewachsen mit vier Geschwistern, die alle nur die achtjährige Volksschule besuchen, entwickelt er früh ein Interesse für Kunst und Literatur. Das zweite Bild von Düsseldorf, das er im Kopf hat, ist der Stadtteil Kaiserswerth, wo er heute lebt. Er ist ruhig und grün, es gibt etliche Häuser aus der Gründerzeit. Die Gegend zieht viele Ausflügler an.
Müller-Jentsch hat einen weiten Weg hinter sich. Als junger Mann hält er die DDR für den besseren Staat – bis er angesichts der Repressionen anfängt zu zweifeln. Er erhofft sich Gewerkschaften, die basisdemokratisch organisiert sind. Heute nennt er den Sozialismus eine „Utopie von gestern“, spricht voller Respekt von Betriebsräten und davon, dass man die soziale Marktwirtschaft weiterentwickeln und zivilisieren müsse. Das, sagt er, „sollen auch Gewerkschaften zum Programm machen“.
Was ihn auszeichnet, ist sein Wissensdurst. Sein Aufstieg beginnt mit einer Kaufmannslehre, bald ist er auch Journalist für linke Zeitungen. Über den zweiten Bildungsweg erwirbt er am Hessenkolleg in Frankfurt die Hochschulreife. Mithilfe der Stiftung Mitbestimmung, Vorgängerin der Hans-Böckler-Stiftung, nimmt er 1963 ein Studium der Soziologie, Politik und Nationalökonomie in Frankfurt auf und studiert bei Jürgen Habermas und Theodor W. Adorno, den er noch heute ein Genie nennt. An Adorno erinnert bis heute ein „Kränzchen“, ein „inner circle“, der sich einmal im Monat trifft. Für Müller-Jentsch ein wichtiger Termin: „Ich brauche Freundschaft und Kommunikation.“
Ein Auslandsaufenthalt in den USA ist der Stiftung Mitbestimmung zu teuer, für Großbritannien reicht das Geld. Müller-Jentsch geht 1966 an die London School of Economics, hört Ralph Miliband, einen der Protagonisten der Neuen Linken, und wird Zeuge der Konflikte zwischen den Gewerkschaften und der Labour-Regierung, die die Wirtschaftskrise mit Lohnstopps und Streikverboten überwinden will. Mit den Meriten aus Großbritannien wird er 1969 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Sozialforschung. Als ihm Adorno dort die Hand drückt, ist das eine Initiation. Hier entsteht „Gewerkschaften in der Bundesrepublik“, eine viel beachtete Dissertation mit Otto Jacobi.
1982 wird Müller-Jentsch Professor für Sozialwissenschaft an der Universität Paderborn. Die Stadt mit ihrem verstaubten Katholizismus, in der nur der Erfolg des Computerpioniers Heinz Nixdorf auffällt, wird ihm bald zu klein. Er wechselt 1992 zum Lehrstuhl für Organisation und Mitbestimmung an der Ruhr-Universität Bochum, wo er bis 2001 die erste Mitbestimmungs-Professur in Deutschland innehat.
Er prägt Begriffe wie „Co-Management“ und „Konfliktpartnerschaft“, die zur DNA seines Faches zählen, liefert unzählige Publikationen, heute verstärkt zur Kunstsoziologie, seinem „Spielbein“. Gerade stellt er ein Buch mit kunstsoziologischen Arbeiten zusammen: „Adorno und andere“. In ihm befasst er sich zum großen Teil mit dem Werk seines früheren Lehrers.
Was sein “Standbein“, die Mitbestimmung angeht, sagt er, Deutschland habe eine der besten Unternehmensverfassungen der Welt. Dennoch seien Unternehmen noch immer „konstitutionelle Monarchien“, weit weg von seinem Idealtypus einer dualistischen Unternehmensverfassung. Hier gibt es noch viel zu tun.