Quelle: Angelika Osthues
StipendienAltstipendiatin: Die Knastlehrerin
Ursula Priebs unterrichtet Strafgefangene in Deutsch und Englisch. Zudem engagiert sie sich für Kollegen, die im Job traumatische Stresserfahrungen gemacht haben.
Von Dirk Manten
„Frau Priebs, jetzt habe ich es verstanden!“ Wenn einer ihrer Schüler diesen Satz sagt, ist Ursula Priebs zufrieden. Die zierliche Pädagogin arbeitet zusammen mit rund 300 weiteren Beschäftigten in der JVA Bielefeld-Brackwede, einem Gefängnis, in dem rund 550 Insassen Platz finden. Deutsch oder Englisch stehen auf dem Lehrplan, wenn sie in dem kleinen Klassenzimmer mit den vergitterten Fenstern vor ihre Klasse tritt – allesamt erwachsene Männer.
Ihr Unterricht konzentriert sich auf die Vermittlung von Grundkenntnissen, denn viele der Insassen, die hier freiwillig die Schulbank drücken, haben eine andere Muttersprache als Deutsch. In ihrem Leben ist oft einiges schiefgegangen, sie kämpfen mit Suchtproblemen und Bildungsdefiziten. So geht es in Priebs’ Unterricht nicht nur um den Stoff, sondern auch um den „Lehrplan hinter dem Lehrplan“ – darum, diese Menschen an das Lernen überhaupt erst heranzuführen, dem Tag eine Struktur zu geben und den Erwerb sozialer Kompetenzen zu fördern. Im Einzelfall kann diese pädagogische Arbeit so erfolgreich sein, dass Gefangene von Bielefeld in die JVA Münster verlegt werden können, um dort den Haupt- oder Realschulabschluss nachzuholen. Oder sogar das Abitur.
Priebs eigene Biografie ist ebenfalls nicht ganz glatt. Mit 15 Jahren beginnt die gebürtige Bielefelderin eine Ausbildung in der Stadtverwaltung, als Beamtin im mittleren Dienst. Sie qualifiziert sich weiter, steigt auf in den gehobenen Dienst und wird Anfang der 1980er Jahre zur Beamtin auf Lebenszeit ernannt, beschäftigt in der kommunalen Sozialverwaltung. Kurz darauf beantragt sie die Entlassung aus dem Beamtenverhältnis und beginnt, auf dem Westfalenkolleg ihr Abitur nachzuholen. „Ich habe mich damals gefragt, ob im Leben nicht noch etwas anderes auf mich wartet“, sagt Ursula Priebs zu dieser biografischen Zäsur. „Dafür habe ich relativ leichten Herzens das sichere Beamtenverhältnis aufgegeben.“ Gleich zu Beginn ihrer Zeit auf dem Westfalenkolleg wird Priebs Stipendiatin der Hans-Böckler-Stiftung, auf die sie bereits als aktives Mitglied der ver.di-Vorläufergewerkschaft ÖTV bei der Stadtverwaltung aufmerksam wurde.
Die Stiftung fördert die ambitionierte Gewerkschafterin nach dem bestandenen Abitur auch während ihrer gesamten Studienzeit. Priebs studiert zunächst Slawistik, Geschichte und Literaturwissenschaft, wechselt nach zwei Semestern aber den Studiengang und verlässt 1991 die Universität Bielefeld als Diplom-Pädagogin. Ihre Abschlussarbeit schreibt Priebs – die selbst aus einer nicht mit Bildungsprivilegien gesegneten Arbeiterfamilie stammt – zu dem Thema „Abschlussbezogene Weiterbildung für ‚Familienfrauen‘ im zweiten Bildungsweg“.
Der Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt gelingt der frischgebackenen Akademikerin über eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme bei der Kulturwerkstatt Bielefeld, wo sie vorwiegend Angebote für Jugendliche verantwortet. Nach Phasen der Arbeitslosigkeit bewirbt sie sich beim Land Nordrhein-Westfalen und wird im Rahmen mehrerer befristeter Arbeitsverhältnisse pädagogische Mitarbeiterin im Projekt „Gesundheitsförderung für Beschäftigte im Justizvollzug“. Hier macht sie den Belegschaftsangehörigen Angebote zur Stressbewältigung oder zur Ernährungsberatung, um ein Stück weit die Belastungen auszugleichen, die sich aus Schichtdiensten und den besonderen Anforderungen der Beschäftigung im „Knast“ ergeben.
Diesem Thema ist Ursula Priebs auch als Lehrerin im Pädagogischen Dienst verbunden geblieben. Sie gehört heute zu einem Pool von Ansprechpartnern, die auf freiwilliger Basis für Gespräche und Hilfestellungen den Beschäftigten der JVA zur Verfügung stehen, die im Dienst außergewöhnlichen Belastungen ausgesetzt waren. Das können Erfahrungen von körperlicher Gewalt sein oder wenn sich Inhaftierte selbst etwas antun. Rund zehn Gespräche dieser Art, so schätzt sie, hat Priebs im vergangenen Jahr geführt.
Seit zehn Jahren arbeitet sie nun bereits als Lehrerin. Nach dem endgültigen Auslaufen des Projekts zur Gesundheitsförderung und etlichen rechtlichen Auseinandersetzungen um die Entfristung ihres Arbeitsverhältnisses mit dem Land Nordrhein-Westfalen tat sich die Chance auf, nach vielen Jahren in einem unsicheren arbeitsrechtlichen Status unbefristet als Tarifbeschäftigte tätig zu werden. Dass sie dieses Ziel erreicht hat, das hat Uschi – wie sie in ihrem Bekanntenkreis genannt wird, zweifellos auch einer gewissen Zähigkeit und Risikobereitschaft zu verdanken. Sie sagt heute von sich, „die Entscheidung, die abgesicherte Beamtenlaufbahn aufgegeben zu haben, habe ich zu keiner Zeit bereut.“