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Medizinerin Thumm-Söhle in ihrer Praxis: Ehrenamtlich engagiert aus Dank für erfahrene Unterstützung Stipendien

Altstipendiatin: Die Hürdenläuferin

Ausgabe 07+08/2012

Erst Industrieschneiderin, dann Krankenschwester und heute niedergelassene Hausärztin: Carola Thumm-Söhle hat sich über zahlreiche Hindernisse in die eigene Praxis gekämpft.

Von Susanne Kailitz

Wenn Carola Thumm-Söhle mit Schwung durch ihre Praxis läuft, dann ist ihr die Freude über ihr kleines Reich anzumerken. Seit knapp zwei Jahren praktiziert sie hier in Berlin-Friedrichshain als Allgemeinärztin, und wenn sie gebeten wird zu erzählen, wie es dazu kam, muss sie erst einmal tief Luft holen. Denn die Geschichte der 51-Jährigen passt nicht in ein paar Minuten; die glatten Karrierewege anderer blieben ihr immer versperrt. Auf vielen Umwegen hat sie sich in das Leben gekämpft, das sie heute führt und das, wenn es nach ihr geht, „jetzt ruhig eine ganze Weile so bleiben kann“. Und das nur wenig mit dem ihrer Jugend zu tun hat.

Abitur oder gar ein Studium waren für Carola Thumm-Söhle nicht vorgesehen. Die Tochter eines Malers und einer Krankenpflegerin, die in Berlin-Schöneberg aufgewachsen ist, machte nach dem Realschulabschluss eine Lehre zur Industrieschneiderin. Schon Großmutter und Tante hatten als Modistin gearbeitet, Handarbeiten lagen der 16-Jährigen. Doch mit feinen Spitzen und raffinierten Schnittmustern hatte die Ausbildung nichts zu tun. „Das war Arbeit im Akkord.“ Schnell sei ihr klar geworden, dass sie das nicht wollte – doch der Mut, etwas zu ändern, fehlte. Zunächst jedenfalls. Doch Thumm-Söhle hatte das Glück, dass ihr Ausbilder Betriebsratsvorsitzender war und sie „ganz selbstverständlich“ zum Eintritt in die Gewerkschaft gebracht habe. „Dort habe ich überhaupt erst erfahren, welche Rechte ich als Auszubildende habe. Und diese Diskussionskultur, die Möglichkeit, mich mit anderen auszutauschen – das war eine ganz andere Welt.“ Aus der „kleinen, grauen, stillen Maus“, so Thumm-Söhle rückblickend, wurde eine junge Frau, die sich nicht länger mit dem Erstbesten zufriedengeben wollte.

Sie kündigte, fand schnell eine Pflegehelferstelle bei der Heilsarmee und kurz darauf einen Ausbildungsplatz zur Krankenschwester im Auguste-Viktoria-Krankenhaus in Berlin. Ihre Familie sah den Wechsel mit Unverständnis – wie man eine Stelle aufgeben könne, bei der man Geld verdiene, habe vor allem ihre Mutter nie verstanden. „Da hieß es immer: Mädchen, bleib bei deinen Leisten. Dass ich einfach nicht monatelang Reißverschlüsse oder Kragen nähen wollte, hat niemand kapiert.“

Doch auch das Schwesterndasein reichte Thumm-Söhle nicht. Mit einem Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung holte sie das Abitur nach und bewarb sich mit 24 Jahren um einen Studienplatz. Mit der Zusage begann der Start in ein schon wieder neues Leben. Fast zehn Jahre kämpfte Thumm-Söhle, immer wieder durch eine schwere Krankheit gehandicapt, um ihren Abschluss. Um dann erst einmal – und in den nächsten Jahren immer wieder – arbeitslos zu sein. „Ende der 90er Jahre gab es in Berlin im Grunde keine Stellen. Als Ärztin so begehrt zu sein wie heute nach dem Studium, davon konnten wir nur träumen.“ Dass Thumm-Söhle in der Klinik, in der sie schließlich eine Stelle als Assistenzärztin in der Onkologie fand, Betriebsratswahlen gegen die Verwaltung durchsetzte, war wohl typisch für die Frau, die kaum je den reibungsarmen Weg ging.

Dass sie heute als niedergelassene Hausärztin praktiziert, sei nie geplant gewesen, sagt sie lächelnd. „Die Entscheidung, mit 49 Jahren einen hohen Kredit aufzunehmen, um die Praxis zu kaufen, in der ich zuvor angestellt war, war schwer. Ich hatte große Angst, noch in der Rente zurückzahlen zu müssen.“ Noch größer aber war die Angst, wieder arbeitslos zu sein oder im Schichtdienst eines Krankenhauses keine Zeit mehr für ihren Mann und den Sohn zu haben.

Dem bringt sie inzwischen bei, dass man alle Hürden überwinden kann – wenn man nur dafür kämpft. „Ich bin ja nie den klassischen Weg gegangen, war weder Klassensprecherin noch Schülerzeitungsredakteurin. Wer ich bin und was ich kann, musste ich erst mühsam lernen. Aber es geht – wenn man nur ein bisschen Unterstützung bekommt.“

Für Thumm-Söhle hieß diese Unterstützung über lange Jahre hinweg: Hans-Böckler-Stiftung. Ohne das Begabtenförderungswerk und die Gewerkschaften, das sagt die Ärztin deutlich, wäre sie heute wohl nicht hier, in ihrer schönen Praxis. Weil sie den Wert beständiger Unterstützung am eigenen Leib erfahren hat, ist es ihr bis heute wichtig, sich selbst zu engagieren. Seit 2004 arbeitet sie ehrenamtlich für die Lebensmittelausgabe „Laib und Seele“ der Berliner Tafel und hilft immer wieder in der Kita ihres Sohnes aus, wenn Unterstützung gebraucht wird. Und auch im Stiftungskosmos ist sie weiter aktiv – als Organisatorin des Netzwerks Gesundheit, in dem sich Altstipendiaten über gesundheitspolitische Fragen austauschen. „Ist doch klar“, sagt sie, „dass man auch etwas zurückgeben möchte.“

So sehr sie die neu gewonnene Stabilität ihres Lebens auch genießt: Manchmal kommt er wieder, der Gedanke, dass vielleicht etwas Neues auf sie warten könnte. „Vielleicht promoviere ich oder gehe für ein paar Monate als Ärztin nach Indien.“ Für einen Moment sieht sie nachdenklich aus, dann muss sie lachen. „Vermutlich mache ich irgendwann beides.“

Text: Susanne Kailitz, Journalistin in Dresden / Foto: Juliane Scherz

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