Quelle: Rolf Schulten
StipendienAltstipendiatin: Die Feministin
An der östlichsten Universität Deutschlands, in Frankfurt an der Oder, erforscht die Rechtswissenschaftlerin Eva Kocher die Lage von Menschen, die nur selten vor Gericht gehen. Von Jeannette Goddar
Frisch promoviert, abenteuerlustig, den Blick nach Brasilien gerichtet – im Leben jedes Menschen gibt es diese Momente, in denen Weichen gestellt werden. Eva Kocher saß im Büro von Heide Pfarr. Eigentlich wollte sie von der Grande Dame des Arbeitsrechts, lange auch Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung, nur ein Gutachten für ein Stipendium in Belo Horizonte. Doch Heide Pfarr sah in der 30-Jährigen mehr als nur eine einstige Studentin. „Komm schnell aus Südamerika wieder“, empfahl sie, „dann schreiben wir ein Buch, und du habilitierst dich.“
„Professorin, das sind nicht nur andere, das könnte auch ich sein – der Gedanke war mir nie gekommen“, erinnert sich die heute 59-jährige Eva Kocher in der kleinen Teeküche im vierten Stock eines in den letzten Jahren der DDR errichteten Wohnhauses in Frankfurt an der Oder. Seit 15 Jahren hat sie einen Lehrstuhl für bürgerliches Recht, europäisches und deutsches Arbeitsrecht sowie Zivilverfahrensrecht an der wohl interessantesten Unigründung seit dem Fall des Eisernen Vorhangs, der Europa-Universität Viadrina, die seit 1991 Brücken in das nur durch die Oder getrennte Polen wie nach Osteuropa insgesamt schlägt.
In dem zu einem Unigebäude umfunktionierten Haus in der spätsozialistischen Fußgängerzone arbeiten unter anderen auch das Viadrina Center of Polish and Ukrainian Studies und das Center B/orders in Motion, mit dem ihr Lehrstuhl später am Tag noch zu einem Vortrag lädt. Das Thema: die Rechte häuslicher Angestellter in Lateinamerika.
Das Soziale mit dem Rechtlichen verbinden, den Menschen ins Zentrum stellen, das ist das Ziel der gebürtigen Stuttgarterin. Schon eine Promotion interessierte sie erst, als sie als Teamerin am DGB-Bildungszentrum Hamburg-Sasel erlebte, wie Recht für Betriebsräte in der Praxis wirkt: „Welches Ziel habt ihr? Welche Instrumente gibt es? Wie könnt ihr sie umsetzen? Mit diesem Dreisprung kommt man oft zu guten Ergebnissen“, erzählt sie. Ihr von der Hans-Böckler-Stiftung gefördertes Promotionsthema „Sozialplangestaltung bei Einführung neuer Techniken“ fragte in den frühen 1990er Jahren danach, wie der Einzug neuer Technologien mit Qualifizierung und Umschulung einhergehen könne – und nicht nur mit Entlassungen und Abfindungen.
An der Viadrina benannte sie ihren Lehrstuhl so um, dass sich auch Forschende mit anderen Blickwinkeln angesprochen fühlen. „Center for Interdisciplinary Labour Studies“ heißt er und bringt Ansätze der Rechts-, Sozial- und Kulturwissenschaften zusammen. „Es gibt zahllose Menschen, die in prekären Verhältnissen arbeiten und vor Gericht kaum auftauchen“, erläutert Eva Kocher. „Nur interdisziplinär können wir ihre Lage erforschen und so möglichst auch ihre Unsichtbarkeit beenden.“
Wie so etwas gelingen kann, wird am Beispiel der Fahrradkuriere deutlich, denen das Bundesarbeitsgericht 2021 mit einem bemerkenswerten Urteil den Rücken stärkte: Wer Menschen via App beauftragt, mit dem Fahrrad Dinge auszufahren, muss ihnen Dienstrad und -handy zur Verfügung stellen. Zur Sichtbarmachung der Kuriere trug ein von der Hans-Böckler-Stiftung gefördertes Forschungsprojekt bei, in dem Eva Kocher mitarbeitete.
Über sich selbst sagt Eva Kocher: „Ich war schon immer Feministin.“ Wie für ihre Mentorin Heide Pfarr gehören Arbeits- und Frauenrechte für sie stets zusammen. Als Vorsitzende der Sachverständigenkommission für den Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung entwickelte sie 2017 eine heute längst etablierte Kennzahl mit, den Gender Care Gap, der deutlich macht, wie viel mehr Zeit Frauen für unbezahlte Tätigkeiten im Haushalt und für die Familie aufwenden als Männer. Es bleibt also viel zu tun für Eva Kocher, die zugleich feststellt: „Vielen jungen Juristinnen ist ein feministischer Zugang zu Arbeits- und Sozialrecht ein Anliegen. Das ist doch ein gutes Zeichen.“