Quelle: Stephan Pramme
StipendienAltstipendiat: Der Naturführer
Martin Hagemann arbeitete als Informatiker, doch ein Büromensch war er nie. Am liebsten paddelte er. Aus seinem Hobby hat er einen Beruf gemacht. Von Martin Kaluza
Das Boot schlängelt sich in engen Kurven durchs Schilf, Prachtlibellen schweben über Teichrosen, am Himmel kreist ein Rotmilan. „Da hinten, das ist ein Schreiadler“, sagt Martin Hagemann und lässt das Paddel für einen Moment ruhen. „Er wird auch Pommernadler genannt. Hier ist der westliche Zipfel seines Verbreitungsgebiets.“ Die Recknitz, auf der das Boot nun langsam treibt, ist der alte Grenzfluss zwischen Mecklenburg und Pommern. Hagemann ist dienstlich hier. Er führt als zertifizierter Natur- und Landschaftsführer ganz im Norden von Mecklenburg-Vorpommern eine Paddeltour.
Anfang der 1990er Jahre war Hagemann Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung und studierte etwas komplett anderes: Als er 1988 in Rostock sein Studium aufnahm, war sein Fach gerade erst in Informatik umbenannt worden, davor hieß es noch technische Kybernetik und Automatisierungstechnik. „Es war ein Studium für Leute, die gut in Mathematik waren. Computerfreaks gab es noch nicht“, sagt Hagemann. „Allein schon, weil so gut wie niemand einen Computer hatte.“ Im Studium lernte er seitenweise Formeln auswendig. Seinen ersten Rechner, einen Commodore C128D, besorgte ihm ein Onkel aus Westberlin.
Als nach dem Fall der Mauer der große Umbruch einsetzte, engagierte sich Hagemann in der Ehrenkommission der Uni Rostock, die sich um die demokratische Erneuerung der Universität kümmerte. „Das war Geschichte pur“, sagt er. Er sichtete Akten von Dozenten und Mitarbeitern, trug Hinweise auf ihre Stasi-Vergangenheit zusammen. „In den Anhörungen habe ich viel gelernt. Für einige Menschen brach eine Welt zusammen, weil sie wirklich an den Sozialismus geglaubt hatten“, erinnert sich Hagemann. „Andere, darunter Führungs-IMs, haben uns schamlos angelogen. Wenn wir ihnen kompromittierende Dokumente zeigten, auf denen ihre Unterschrift klar zu sehen war, haben die einfach gesagt: ‚Ich weiß auch nicht, wie die dahin gekommen ist.‘“
Nach zwei Jahren zog er sich aus der zeitaufwendigen Arbeit in der Ehrenkommission zurück und verbrachte ein Auslandsjahr in Dublin. „Dort konnte ich mich wieder ganz ins Studium versenken“, sagt er. Nach dem Studium begleitete Hagemann eine Freundin nach Mali, bewarb sich dann selbst für ein Entwicklungshilfestipendium in Kamerun und half einer lokalen NGO beim Aufbau des IT-Systems. Anschließend arbeitete Hagemann als IT-Berater für die GTZ. 2000 wurde er Projektmanager und später Geschäftsführer der Landesinitiative Neue Kommunikationswege Mecklenburg-Vorpommern, die kleine und mittlere Unternehmen bei Digitalisierung und E-Learning unterstützte.
2012 hatte Hagemann genug von dem Bürojob. „Irgendwann dachte ich: Was ich am liebsten mache, ist Paddeln.“ Er machte eine Ausbildung zum Natur- und Landschaftsführer und meldete ein Gewerbe an. Die Geschäftsidee: mehrtägige Paddeltouren auf Recknitz, Peene und Warnow. Er ergatterte sieben gebrauchte Pouch RZ 85, das genial konstruierte Faltboot aus DDR-Produktion. Ein regulärer Job kam dann doch dazu, aber einer, der passte: Der Tourismusverein Vogelparkregion Recknitztal suchte einen Koordinator. Die kleine Region liegt kurz vor der Ostsee, im Schatten der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst mit ihren Seebädern und den vollen Stränden.
Nun ist Hagemann Touristiker und gleichzeitig Tourenanbieter. Er führt Paddeltouren, Wildkräuterwanderungen und Radtouren. Er zeigt Urlaubern auf dem Darß, wie man am Strand Bernstein findet. Und er bringt die Gäste zu den Idealisten und Machern, zu den Gasthöfen und Ökobauern, die in der dünn besiedelten Region – genau wie er selbst – mit Herzblut etwas Nachhaltiges aufbauen.