Quelle: Michael Hughes
StipendienAltstipendiat: Der Kunstkenner
Vor einem halben Jahrhundert war Lothar Fischer Stipendiat der Stiftung Mitbestimmung. Er kennt die Gefängnisse der DDR, das sinnliche Vergnügen, das die Kunst bereitet, und die Leiden des hohen Alters. Von ANDREAS MOLITOR
Die Kraft hat gerade noch gereicht für ein letztes Buch. Eine Biografie über George Grosz, einen der bedeutendsten Künstler der Zwanziger Jahre – Maler, Karikaturist, Spötter, Bürgerschreck, Dadaist, Berserker und Trinker. „Das hab‘ ich mit meiner Co-Autorin aus meinem Material noch so eben geschafft“, sagt Lothar Fischer und bugsiert sich in seinem Rollstuhl durch den Flur des Berliner Pflegeheims, in dem er seit Anfang des Jahres wohnt. „Kurz nachdem das Buch erschien, kam der Zusammenbruch.“ Seitdem kann Fischer nicht mehr ohne Hilfe stehen.
Als George Grosz am 6. Juli 1959 in Berlin nach einer Zechtour an seinem Erbrochenen erstickte, hatte der heute 85-jährige Fischer mit Sicherheit schon weit tiefere Abgründe durchlebt als das Gros seiner Altersgenossen, mit denen er damals in West-Berlin Kunsterziehung studierte.
Vier Jahre, von 1952 bis 1956, hatte der 1932 im sächsischen Freiberg geborene Fischer als politischer Häftling in DDR-Zuchthäusern verbracht, zuerst in Bautzen, dann in Waldheim. Er war ein Opfer der politischen Paranoia der späten Stalinzeit. Vor seiner Verhaftung hatte er als Redakteur bei der staatlichen DDR-Nachrichtenagentur ADN gearbeitet. Eine glänzende Karriere lag vor ihm. Aber er war „naiv und abenteuerlustig“, wie er heute sagt, häufig in West-Berlin unterwegs und unterhielt Kontakte zum Rias, der in der DDR als westlicher Propagandasender verpönt war.
Fischer lieferte dort, damit er ein bisschen Westgeld hatte für Zeitungen oder Bücher, Materialien aus der DDR ab, beispielsweise die Betriebszeitung des Stahlwerkes Döhlen „Der Friedensstahl“. Ein für die Stasi spitzelnder Kollege verriet ihn. Angeblich hatte er Fischer beobachtet, wie er bündelweise Westgeld an Unteragenten auszahlte. Das reichte für einen Schauprozess. Fischer wurde zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. Nachdem er nach vier Jahren vorzeitig aus der Haft entlassen worden war, zog er sofort nach West-Berlin, holte das Abitur nach, studierte und trat in den Schuldienst ein.
Gern wäre Fischer für einige Zeit ins Ausland gegangen. „Da gibt es doch die Stiftung Mitbestimmung“, sagte ihm eines Tages Erich Frister, Landesgeschäftsführer der damaligen Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. „Da können Sie ein Jahr nach Amerika.“ Frister schlug Fischer bei der Vorgängerin der Hans-Böckler-Stiftung vor – und der erhielt 1962 ein Stipendium an der Western Michigan University in Kalamazoo.
Anfangs verstand Fischer in den Vorlesungen kaum ein Wort, weil sein Schulenglisch erbärmlich war. Abends unterrichte er seine amerikanischen Kommilitonen in Deutsch und erzählte von Berlin. „Der Mauerbau lag ja erst ein Jahr zurück. Die wollten alle wissen, was da los ist.“ Wie gut, dass er eine Fotoserie vom Bau der Mauer geschossen hatte. „So konnte ich überall Diavorträge halten, das war der Hit.“ Er begann eine Romanze mit einer Amerikanerin, die ihm Englisch beibrachte. Eine heikle Situation, schließlich warteten in Berlin Frau und Sohn auf ihn. Der Kontakt ist nie abgebrochen. In ihrem letzten Brief schrieb sie, dass sie nicht mehr leben mag, in Trumps Amerika.
Nach der Rückkehr aus den USA unterrichtete Fischer bis 1994 an Berliner Schulen als Kunstlehrer – und erwarb sich einen Namen als Autor viel beachteter Biografien über Heinrich Zille, Max Ernst und Otto Dix. Allein drei Bücher widmete er dem Leben der skandalumwitterten Nackttänzerin Anita Berber, eine Femme fatale der 20er Jahre, die soff, Morphium und Kokain nahm, sich prügelte und die Männer inhalierte wie Zigarettenrauch.
Ein wenig Strandgut seines Lebens ist in Fischers Pflegeheimzimmer angespült worden. Eine fast mannshohe zweiteilige Holzskulptur. Vergilbte Fotos. Ein Sortiment Spielzeugfiguren – Indianer, Cowboys, SA-Leute auf einem Transporter. Alles Originale aus seiner Kinderzeit. Doch das meiste liegt noch in seiner Berliner Wohnung, die demnächst aufgelöst wird. Wohin mit all den Artikeln, die er geschrieben hat? Mit dem Misshandlungsprotokoll aus der Haftzeit? Den Büchern? Demnächst soll er zwei Zimmer bekommen, immerhin.
„Es musste entschieden werden, was mitgenommen werden sollte. Alles war wie ein Abschiednehmen von seinem Leben und seiner Arbeit, so als ob er geahnt hätte, dass es eine Reise in den Tod werden sollte.“ Das schreibt Lothar Fischer über die Rückkehr von George Grosz aus den USA nach Berlin im Jahr 1959. Passt irgendwie. „Ich würde gern weiter schreiben, „aber einen Roman schaffe ich nicht mehr“, sagt er. Einzelne Episoden, vielleicht. Über die Zeit in Bautzen? Dass der Spitzel nicht zur Rechenschaft gezogen wurde, weil der Verrat, als er in den 90er Jahren vor Gericht kam, verjährt war? Will das jemand lesen? Schafft er das noch? „Mein Leben geht gerade vor die Hunde“, sagt Lothar Fischer zum Abschluss. Dann fällt die Tür zu seinem Zimmer ins Schloss.