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Von klein auf war Jürgen Johannesdotter bei jeder Maikundgebung dabei. Stipendien

Altstipendiat: Der Bischof

Ausgabe 06/2022

Jürgen Johannesdotter war der erste von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Theologiestudent. Der Arbeitersohn wurde später evangelischer Landesbischof – und hält der Gewerkschaft bis heute die Treue. Von Joachim F. Tornau

An dem Foto hat Jürgen Johannesdotter seine helle Freude. Es zeigt ihn bei einer Maikundgebung der Gewerkschaften vor etlichen Jahren. Zu sehen ist der damalige Bischof der evangelisch-lutherischen Landeskirche Schaumburg-Lippe am Rednerpult der IG Metall, schwarz gewandet mit weißem Bischofskragen, die Sonne auf dem Transparent im Hintergrund formt sich um seinen Kopf wie ein Heiligenschein.

Den 79-Jährigen amüsiert die Provokation, die das Foto für manch konservativen Christen bedeuten mag. Aber in der Sache ist es ihm ernst. „Von klein auf bin ich bei jeder Maikundgebung gewesen“, sagt er. Und damit habe er, der Theologe, der seit Jugendtagen Mitglied der IG Metall ist, nie wieder aufgehört. Nicht als Dorfpfarrer in Ostfriesland, nicht als Studiendirektor im Predigerseminar Kloster Loccum, nicht als Landessuperintendent im Kirchensprengel Stade. Und auch nicht, als er schließlich Bischof in Bückeburg wurde. „An fast jedem 1. Mai habe ich eine Rede gehalten.“ Über Gerechtigkeit. Über die Sozialverpflichtung des Eigentums. Über die Solidarität, die für ihn die politische Schwester der christlichen Nächstenliebe ist.

„Wo ich herkomme, war Solidarität kein Schlagwort, sondern ein Lebewort“, sagt Johannesdotter. Und so versteht er auch seinen Glauben: Nicht allein in schönen Worten zeige er sich, sondern im Tun. Der Mann, der, seit 2009 im Ruhestand, so beeindruckend Karriere machte in der evangelischen Kirche, stammt aus einer armen Arbeiterfamilie. Mit vier Geschwistern wuchs er in Bramsche bei Osnabrück auf als Sohn eines Weltkriegsinvaliden und einer Fabrikarbeiterin, die die Familie mit ihrer Arbeit in einer Drahtlackiererei mühsam über Wasser hielt. Auch Jürgen musste zum Familienunterhalt beitragen, erst mit Botengängen, dann als Hilfsarbeiter in der Drahtfabrik und später als Arbeiter auf dem Bau.

In einer Kirche, deren Wände er damals mauerte, für 2,72 DM pro Stunde, das weiß er noch genau, stand Johannesdotter 40 Jahre später auf der Kanzel. Ein Sinnbild seines Lebenswegs. „Was ich immer noch empfinde, ist eine tiefe Dankbarkeit, dass ich diesen Weg gehen durfte“, sagt er. Viel verdanke er seiner Mutter. Als „ausgesprochen politisch denkend, feinfühlig und klassenbewusst“ beschreibt er sie, die wie der Vater früh gestorben ist. Sie war es, die ihn bei der Gewerkschaft anmeldete, und sie war es auch, deren Gewerkschaftskontakte ihm nach dem Abitur, das er als erstes Kind aus dem Bramscher Arbeiterviertel ablegen konnte, ein Studienstipendium der Stiftung Mitbestimmung verschafften.

Dass die Vorläuferin der Hans-Böckler-Stiftung mit ihm zum ersten Mal einen Theologiestudenten förderte, lag allerdings nicht an der Mutter. „Ich habe nie ein Gebet zu Hause gehört, auch kein Tischgebet“, erzählt Johannesdotter. Schon für Soziologie sei er eingeschrieben gewesen, da habe ihm ein Pfarrer den Floh der Theologie ins Ohr gesetzt. Den Ausschlag jedoch hätten die vielen Gespräche gegeben, die er in Marburg mit dem dortigen Vertrauensdozenten der Stiftung führte, dem Literatur- und Theaterwissenschaftler Johannes Klein. „Ein Katholik, der aus der Kirche ausgetreten, aber damit nicht fertig war“, sagt Johannesdotter. „Auch dank ihm ist aus meiner Neugier immer mehr Überzeugung geworden.“

Der Mann, der noch heute die Scheinheiligkeit mancher seiner 68er-Mitstudierenden aus wohlhabendem Elternhaus brandmarkt – „links reden, rechts leben, das geht gar nicht“ –, er wollte in religiösen Fragen nie ein Revoluzzer sein. „In manchem bin ich konservativ“, sagt er. Heute lebt der ehemalige Landesbischof abwechselnd in Bückeburg und auf Norderney. Gelegentlich steigt er dort auch heute noch auf die Kanzel, als Urlaubsvertretung.

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