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Magazin MitbestimmungStreitgespräch: Mehr Mut zur Kapitalismuskritik?
Wirtschaftsdemokratie sei ein Konzept von gestern, befand Industriesoziologe Walther Müller-Jentsch angesichts einer Streitschrift für diesen Gesellschaftsentwurf. Mitherausgeber Hans-Jürgen Urban ließ die Kritik nicht auf sich beruhen, sondern lud zum Streitgespräch nach Frankfurt.
Die Wirtschaftsdemokratie war in der Nachkriegszeit gewerkschaftliche Programmatik. 1996 haben sich die DGB-Gewerkschaften davon verabschiedet und zur Sozialen Marktwirtschaft bekannt. Hat hier nicht die Geschichte ihr Urteil gesprochen?
URBAN: Vor allen Dingen hat die Gegenwart ihr Urteil über die Soziale Marktwirtschaft gesprochen; die ist heute mehr oder weniger ein toter Hund. Die heutige Marktwirtschaft hat vielfach das abgeschüttelt, was sie zur Sozialen Marktwirtschaft machte. Sie hat sich transformiert in den Finanzmarktkapitalismus, und wenn es in der Krise ernst wird, fliegen die Dogmen und Leitsätze der Sozialen Marktwirtschaft sofort in den Orkus der Geschichte. Heute wird in einem Ausmaß in die Märkte interveniert, wie es sich keiner der Ordoliberalen jemals hätte vorstellen können. Von daher halte ich diesen Begriff für die gewerkschaftliche Strategiedebatte nicht mehr für geeignet.
MÜLLER-JENTSCH: Diese Kritik teile ich nicht. Die Soziale Marktwirtschaft, oder anders gesagt der Rheinische Kapitalismus, hat sich in der korporatistischen Krisenbewältigung als sehr lebendig erwiesen. Die neoliberale Offensive wurde gebrochen, und wenn wir jetzt in Deutschland auf ein Zukunftsprojekt setzen, dann kann das nur eine sozial-ökologische, eine zivilisierte Marktwirtschaft sein, die ihren Ausgangspunkt im Ordoliberalismus nimmt. Zumal die Gewerkschaften diese Wirtschaftsordnung mitgestaltet haben – früher beispielsweise durch Lohnfortzahlungen im Krankheitsfalle, Sozialpläne und Mitbestimmungsrechte genauso wie heute durch tarifliche Mindestlohnregelungen.
Taugen Konzepte von Wirtschaftsdemokratie aus den 1920er Jahren, die man mit gelenkter Wirtschaft assoziiert, für eine Strategiedebatte von heute?
URBAN: Mit unserem Buch zur Wirtschaftsdemokratie greifen wir eine Traditionslinie auf, die grundsätzlich hinterfragt und modernisiert werden muss. Aber ihr großer Vorteil gegenüber dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft ist ihr Potenzial an und ihr Mut zur Kapitalismuskritik. Die wirklichen gedanklichen und politischen Innovationen kommen derzeit aus den Milieus, wo man keine Angst hat, auch über den Kapitalismus hinaus zu denken, wie etwa am soziologischen Forschungskolleg der Universität Jena.
MÜLLER-JENTSCH: Ich halte den Begriff Wirtschaftsdemokratie für verbraucht, er steht für eine gesteuerte Wirtschaft mit einem koordinierten Volkswirtschaftsplan, mit Wirtschafts- und Strukturräten auf Branchenebene mit Tendenzen zur Organisierung in Kammern, in Kartellen. Wer macht sich denn dafür heute noch stark?
Ist also Wirtschaftsdemokratie ein neues Etikett für demokratischen Sozialismus?
URBAN: Nein. Das alte zeitgebundene Konzept hat eine Reihe von Elementen, die wir dezidiert nicht meinen: erstens die gesicherte Sozialismusperspektive, die heute nicht mehr als Ausgangspunkt des Konzeptes unterstellt werden kann. Zweitens ist die Wirtschaftsdemokratieidee natürlich gänzlich unbeleckt gewesen von der Frage der Ökologisierung und unterschätzte das Faktum der Internationalisierung. Die Idee der Wirtschaftsdemokratie ist auch nicht die Fundamentalopposition gegen den Markt, es wird Modelle einer Mixed Economy geben, die aber die privatkapitalistische Eigentumsdominanz relativieren zugunsten von öffentlichen, genossenschaftlichen Eigentumsformen.
Walther Müller-Jentsch, muss man als Befürworter der Sozialen Marktwirtschaft nicht Sorge haben, mit einer CDU-FDP-Regierung im gleichen Boot zu sitzen?
MÜLLER-JENTSCH: Berührungsangst ist fehl am Platze. Haben die Gewerkschaften nicht mit der gegenwärtigen Regierung gemeinsam Arbeitsmarktinstrumente wie die Verlängerung der Kurzarbeit zur Dämpfung der letzten Krise geschmiedet? In meinem Verständnis verlangt die Parteinahme für die Soziale Marktwirtschaft das breite Bündnis. Es kommt doch darauf an, ob beispielsweise die Gewerkschaften in diesem „stillen Korporatismus“ das elastische Konzept der Sozialen Marktwirtschaft weiter ausfüllen können, ob sie deren Weiterentwicklung – wie in der Vergangenheit – auch künftig ihren Stempel aufdrücken können.
URBAN: Positive Errungenschaften wie Tarifautonomie, Mitbestimmung oder die sozialen Sicherungssysteme sind doch vor allem Ergebnisse konfliktorientierter Interessenpolitik, die immer auch Kapitalismuskritik enthielt. Es war nicht zuletzt dezidierte Kapitalismuskritik, die den Kapitalismus herausgefordert hat, seine sozialen Potenziale zu verstärken. Deswegen taugt ein Begriff wie Soziale Marktwirtschaft mit seiner umstandslos prokapitalistischen Grundidee nicht in einer Phase, in der der Finanzmarktkapitalismus in eine grundlegende Krise geraten ist und es grundlegenderer Transformationen bedarf.
Wäre so eine weiter gehende Drohkulisse wünschenswert?
MÜLLER-JENTSCH: Die Systemkonkurrenz hat sicher auch reformerische Impulse ausgestrahlt, aber das ist vorbei. Außerdem hat sich die Soziale Marktwirtschaft nicht nur durch Druck und Drohungen entwickelt. Karl Schiller sprach von der keynesianischen Botschaft, die er mit der Sozialen Marktwirtschaft – dem „Freiburger Imperativ“, wie er es nannte – verknüpft hat. Realistischerweise haben wir heute nur die Wahl zwischen einem neoliberalen und einem zivilisierten Kapitalismus und stehen vor der Herausforderung, ein wettbewerbsfähiges Wirtschaftssystem so zu ordnen, dass es nicht zu gravierenden Ungerechtigkeiten kommt, sondern sozial zugeht.
Hans-Jürgen Urban, was ist das Neue an eurem Alternativkonzept von Wirtschaftsdemokratie?
URBAN: Gegenwärtig erleben wir in Europa eine eklatante Verschiebung der Machtverhältnisse, indem die Kapitalmärkte die politische Demokratie unterminieren. Die Politik wird getrieben, quasi sozialistische Interventionen zu machen, indem Bankkapital enteignet und das Finanzsystem mit einer Billion Euro überschwemmt wird. Doch statt dem öffentlichen Geld demokratische Einflussnahme folgen zu lassen, kapituliert die Politik vor der Macht der Finanzmarktakteure. In dieser Situation erhebt das wirtschaftsdemokratische Modell in der Tat die Forderung, die Schlüsselakteure der Finanzmärkte zu entmachten, um der demokratischen Politik wieder Einflussräume zu eröffnen.
MÜLLER-JENTSCH: Es wird nicht immer alles immer schlimmer, sondern es gibt Pendel- und Wellenbewegungen. Der Finanzmarktkapitalismus hat weder die Tarifautonomie noch die Mitbestimmung kaputt gemacht. Man kann doch nicht so tun, als wären die politischen Eliten seit der Krise 2008 völlig untätig und untertänig dem Finanzkapital gegenüber. Zudem sind wir uns doch darin einig, dass die Finanzmärkte reguliert werden müssen, so wie auch die Produkt- und Arbeitsmärkte reguliert wurden.
URBAN: Die Finanzmärkte müssen vor allen Dingen entmachtet werden, weil sie eine fortschrittliche Lösung der Krise behindern und die politische und soziale Demokratie in ihren Grundfesten erschüttern. Derzeit wird in Europa unter der wirtschaftspolitischen Steuerung und mit dem Fiskalpakt ein Regime etabliert, das in Griechenland die Spielregeln der nationalen Demokratie hinwegfegt. Wir erleben also, dass die herrschenden Eliten gefordert sind, in die Grundfesten des kapitalistischen Systems zu intervenieren in einer Art und Weise, die sich kein Linker vor zehn Jahren hätte träumen lassen.
Und wo sind – konkret bitte – die Anknüpfungspunkte für wirtschaftsdemokratische Interventionen in die Ökonomie?
URBAN: Wir haben, etwa in der IG Metall, auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise die Idee eines Public-Equity-Fonds entwickelt zur Unterstützung Not leidender Unternehmen, weil wir meinen: Wo öffentliches Geld fließt, muss öffentliches Eigentum entstehen und demokratische Einflussnahme folgen. Ich meine: Wenn wir nicht systemkritischer denken, bekommen wir auch die kleinen Fortschritte nicht hin. Seit Jahren macht sich eine finanzmarktkritische Bewegung wie attac für die einstmals utopische Finanztransaktionssteuer stark, und jetzt ist dieser Korrekturvorschlag von den Machteliten aufgenommen worden. Deswegen mein Petitum: mutiger denken, Kapitalismus kritischer denken, denn selbst der kleine Regulierungsfortschritt hat in der historischen Entwicklung immer die größere Kritik gebraucht.
So schlecht kann es um demokratische Politik nicht bestellt sein, sonst hätte sie beispielsweise eine Energiewende nicht gegen Konzerninteressen durchsetzen können. Dazu sind offenbar auch die Verfechter Sozialer Marktwirtschaft und selbst eine CDU-FDP-Regierung in der Lage.
URBAN: Was wir in der Energiewende erleben, sind Interventionen in die Ökonomie, die mit der Philosophie der Sozialen Marktwirtschaft nichts zu tun haben. Mit den Eingriffen in den Energiesektor – die zum Teil die Eigentumsfrage stellen, die mir aber nicht weit genug gehen – kommt ein positiver Gestaltungsanspruch der demokratischen Regierung über die Wirtschaft zum Ausdruck. Auch das sind Elemente von Wirtschaftsdemokratie.
Wir haben also den Übergang in die Wirtschaftsdemokratie bereits vollzogen, ohne es zu merken. Gibt es weitere Beispiele?
URBAN: Aus dem angedachten Branchenrat zum Thema Elektromobilität, der konzeptionell ein Leitbild und Auflagen entwickelt für die gesamte Branche, könnten industriepolitische Interventionen in die Marktwirtschaft hervorgehen, die wirtschaftsdemokratische Elemente enthalten. Der Markt alleine schafft die Ökologisierung dieses Sektors offensichtlich nicht. Derzeit sind selbst konservative Regierungen gezwungen, Banken zu verstaatlichen. Diese erzwungenen Interventionen in die Ökonomie eröffnen Einflusskanäle, die es bewusst zu nutzen gilt im Sinne einer fortschrittlichen Politik.
MÜLLER-JENTSCH: Gerade an der Energiewende sieht man, dass solche Entscheidungen nicht im Gegensatz zu einer Sozialen Marktwirtschaft stehen, die sich freilich zu einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft wandeln muss – neben ihren drei Säulen ökonomische Effizienz, sozialer Ausgleich und demokratische Teilhabe. Ich stelle mir ein Wechselspiel zwischen sozialer Marktordnung und staatlicher Intervention vor. Zum Beispiel hat der schwedische Staat in den 90er Jahren während der Krise Banken verstaatlicht, aber als sich die Wirtschaft stabilisiert hatte, hat er diese Anteile wieder verkauft. Diese Maßnahme war also keine Einbahnstraße – einmal verstaatlicht, immer verstaatlicht. Vergessen wird häufig, das die Ordoliberalen immer einen starken Staat gefordert haben.
URBAN: Wenn am Ende die Intervention in die Eigentumsordnung, wenn das politische Öffnen oder Schließen von Märkten, die Enteignung, die massenhafte Steuerung der Finanzmärkte über eine Europäische Zentralbank, wenn das alles Elemente der sozialen Marktwirtschaft sein sollen, dann macht der Begriff keinen Sinn mehr.
MÜLLER-JENTSCH: Wir unterscheiden uns weniger in der Kapitalismuskritik als in der Frage der Machbarkeit. Wir haben nun mal keine Option für ein anderes Wirtschaftssystem, das zivilisatorisch nicht hinter das zurückfällt, was wir haben. Hans-Jürgen Urban dramatisiert für meinen Geschmack zu sehr, insofern sind in seinem Diskurs die Gefahren da, aber das Rettende nicht. Wir haben immer noch eine lebendige Demokratie, in der sich auch Gegenkräfte und Reformbestrebungen entwickeln, wenn die Gefahren zu stark werden. Und im Moment ist doch die Welle der neoliberalen Invasion erst mal gebrochen und hat die Politik die von den Finanzmärkten ausgehende Krise auch ein Stück weit eingedämmt.
URBAN: Im Gegenteil: Die neoliberale Hegemonie hat sich als viel stabiler erwiesen, als man das gedacht hat. Es gibt große Unzufriedenheit mit den Ungerechtigkeiten des gegenwärtigen Systems und doch keine breite Diskussion über wirtschafts- und gesellschaftspolitische Alternativen. Das halte ich für ein Defizit.
Wer sind die Träger progressiver Reformalternativen?
URBAN: Dieses Problem haben wir gemeinsam. Die Tatsache, dass es gegenwärtig noch einer intensiven Debatte bedarf, um eine Politik mehrheitsfähig zu machen, die in die kapitalistischen Spielregeln eingreift, kann doch nicht bedeuten, diesen Prozess erst gar nicht anstoßen zu wollen. Der Gewerkschaftstag der IG Metall hat das beschlossen, auch Bertold Huber spricht davon: Wir sind alle der Ansicht, dass es zu einer grundlegenden Demokratisierung von wirtschaftlichen Entscheidungen kommen muss, auch wenn es in der Frage, wie weit das gehen soll, durchaus Meinungsunterschiede geben mag.
Die Vertreter der Wirtschaftsdemokratie weisen auf die Begrenztheit gemeinsamer Aktionen von Arbeitgebern, Gewerkschaften und Staat und auch von Mitbestimmung hin. Warum?
URBAN: Unter dem Druck der Schockkrise 2008 gelang es gemeinsam, Arbeitsplätze zu erhalten. Hier hat sich die Mitbestimmung mehr als bewährt. Ausgebaute Mitbestimmung muss den Kern der Wirtschaftsdemokratie darstellen, da akzeptiere ich keinen Gegensatz. Aber gerade beim Thema Erweiterung der Mitbestimmung stößt das korporatistische Modell der Krisenphase an seine Grenzen. Das hat mit den Machtinteressen der Unternehmen, aber auch mit der Ökonomisierung der Arbeitsbeziehungen zu tun. Beide stehen vielfach einer humaneren Arbeitsgestaltung im Wege. Da kann die Demokratiedebatte den Blick öffnen und Perspektiven zeigen, nicht gegen die Mitbestimmung, sondern darüber hinaus.
MÜLLER-JENTSCH: Auch ich habe ein utopisches Projekt, das aber ein Stück weit realistischer ist. Die Gewerkschaften haben die Soziale Marktwirtschaft als real existierende Wirtschaftsordnung mit geschaffen, und jetzt sollen sie aktiv mitmirken, dieses System weiterzuentwickeln. Privateigentum als zerstörerisch anzusehen und staatliches und genossenschaftliches Eigentum als positiv halte ich für falsch. Wir haben doch aus leidvollen historischen Entwicklungen gelernt, denken wir nur an den gescheiterten Realsozialismus.
URBAN: War der gescheiterte Realsozialismus in deinen Augen etwa wirtschaftsdemokratisch?
MÜLLER-JENTSCH: Nein, nicht.
URBAN: Das sehe ich auch so. Man wird der Debatte nicht gerecht, wenn man die neuen Diskussionsimpulse, die wir aussenden wollen, sofort wieder zurückholt in die alten Begriffe, um sie dann als nicht zeitgemäß zu kritisieren. Man sollte akzeptieren, dass wir den Anspruch haben, das Konzept Wirtschaftsdemokratie zu einem Konzept des 21. Jahrhunderts zu entwickeln.
Wenn ihr von Bündnispartnern sprecht, dann ist die Rede von einer Mosaik-Linken. Wer soll das denn sein?
URBAN: Da gibt es keine Avantgarde mehr, Mosaik ist ein Kunstwerk, und die Kunst wird darin bestehen, etwa beim Thema Ökologisierung der industriellen Produktion zu Bündnissen zu kommen zwischen Industriegewerkschaft und umweltkritischer Bewegung und wachstumskritischen Intellektuellen. Es gibt heute neue Kollektivakteure und Konstellationen – auch innerhalb des Deutschen Gewerkschaftsbundes.
Müller-Jentsch: Wobei freilich die IG BCE als Bündnispartner ausfällt, wenn man bedenkt, dass sie in ihren Sozialpartnervereinbarungen mit den Arbeitgebern die Soziale Marktwirtschaft als programmatische Grundlage hervorhebt.
Ist unter diesen Kollektivakteuren vielleicht sogar auch der eine oder andere mutige Denker auf der Kapitalseite darunter?
URBAN: Da melden sich in der Tat auch Manager zu Wort, die realisieren, dass sie unter der Ägide der Finanzmärkte keine positive Zukunft haben. Sodass der Akteur, der sich da konstituiert, durchaus kein Klassenakteur im traditionellen Sinne ist. Mosaik bedeutet eben Mosaik.
MÜLLER-JENTSCH: Du gehst von einem noch älteren Konzept aus, willst es aber auch im neuen Sinne verstehen. Darin sind wir uns einig. Worin wir uns unterscheiden: Ich glaube nicht an eine Fluchtlinie jenseits des Kapitalismus. Der ist über 200 Jahre alt und hat sich als ungeheuer lernfähig erwiesen und als das leistungsfähigste Wirtschaftssystem, das wir aus der Geschichte kennen. Die Widersprüche, die der Kapitalismus erzeugt, die lösen auch Lernprozesse in den ökonomischen und politischen Eliten aus, weil soziale Bewegungen sie dazu zwingen. Und insofern müssen wir davon ausgehen, dass es darauf hinausläuft, den Kapitalismus zu zähmen und ihm ein zivilisiertes Gesicht zu geben.
URBAN: Zu diesem Lernprozesse hat sich der Kapitalismus allerdings nur durchgerungen, wenn er sich mit einer mächtigen Kapitalismuskritik konfrontiert sah. Deswegen wollen wir auch den Heutigen diese mächtige Kapitalismuskritik gönnen und wollen darauf beharren, dass insbesondere die Wissenschaft sich kritisch und nicht affirmativ daran beteiligen sollte.
Müller-Jentsch: Da kann ich dir nur zustimmen – mit der kleinen Einschränkung, dass aus der Kritik politisch praktikable Lösungen hervorgehen sollten.
Das Gespräch führten die Redakteurinnen Cornelia Girndt und Margarete Hasel.
Die Kontrahenten
Hans-Jürgen Urban, 50, hat eine eigene Homepage, auf der man nachlesen kann, dass er sich in seiner Kandidatenrede auf dem IG-Metall-Kongress 2007 dazu bekannte, ein Linker zu sein. Seitdem ist er geschäftsführendes Mitglied der IG Metall, zuständig für Sozialpolitik, Gesundheitsschutz und Qualifizierungspolitik. Schon seine Diplomarbeit hat Hans-Jürgen Urban über gewerkschaftliche Gegenmachtstrategien geschrieben, promoviert hat der Politologe an der Universität Marburg, von 2003 und 2007 leitete er den Bereich Gesellschaftspolitik und Grundsatzfragen der IG Metall. Nicht erst seitdem hält er engen Kontakt zur kritischen Wissenschaft.
Walther Müller-Jentsch, 76, ist ein profunder Kenner der deutschen industriellen Beziehungen, der dafür den Begriff der „Konfliktpartnerschaft“ prägte – zuletzt als Professor für Soziologie an der Ruhr-Universität. Gelernt hatte er Industriekaufmann, ehe er am Hessenkolleg die Hochschulreife erwarb und in Frankfurt und an der LSE in London studierte. Als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Frankfurter Institut für Sozialforschung schrieb Müller-Jentsch in den 1970er Jahren über „Gewerkschaften und Klassenkampf“. Heute inspirieren ihn Konzepte zur Weiterentwicklung der Sozialen Marktwirtschaft, und gerade hat er einen Reclamband über „Gewerkschaften und Soziale Marktwirtschaft“ veröffentlicht.