Quelle: HBS
Böckler ImpulsLändervergleich: Der Mix macht's: Erfolgreiche Länder investieren in Bildung und Soziales
Es gibt keinen Grund, den Finanzbedarf des Bildungswesens und die Ausgaben des Sozialstaates gegeneinander auszuspielen. Ein Vergleich der OECD-Länder zeigt: Erfolgreiche Wohlfahrtsstaaten kümmern sich gleichermaßen um Bildung und Soziales - weil die beiden Aufgabengebiete zusammenwirken.
Ist es besser, jetzt möglichst viel in ein gutes Bildungssystem zu investieren, damit junge Menschen künftig gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben? Oder sollte der Staat sein Geld besser darauf verwenden, den Benachteiligten von heute zu helfen? Obwohl die Mittel stets knapp sind: Die Politik steht nicht zwangsläufig vor diesem Zielkonflikt. "Es kann nicht darum gehen, Bildung und Sozialstaat gegeneinander auszuspielen", schreiben Jutta Allmendinger und Rita Nikolai vom Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) nach einer Analyse der OECD-Staaten.
In der Praxis stehen Bildungs- und Sozialpolitik nicht in einem Konkurrenzverhältnis zueinander, sondern stützen sich wechselseitig, wie die Studie belegt. Denn beide Politikfelder schaffen die Voraussetzungen für gesellschaftliche Teilhabe. Ebenso sorgen beide für die Absicherung von Risiken - und sie sind umso effektiver, je besser sie begleitet werden. Bei ihrer Untersuchung der öffentlichen Sozial- und Bildungsausgaben der OECD-Mitglieder sowie deren Auswirkungen stellten die WZB-Forscherinnen fest: "Eine expansive und egalitäre Sozialpolitik geht im Allgemeinen mit einem ausgebauten öffentlichen Bildungssektor einher." Erfolgreiche Wohlfahrtsstaaten wie Schweden und Dänemark investieren zwar entschlossen in Bildung - doch um diese Ausgaben zu decken, sind sie nicht dem "neoliberalen Ruf nach einem Abbau staatlicher Leistungen" in der Sozialpolitik gefolgt. Weniger gute Gesamtergebnisse erzielen der Studie zufolge Staaten, die sich nur auf Bildung oder nur auf Soziales konzentrieren.
In der Untersuchung werden vier Muster für das Zusammenspiel von Bildungs- und Sozialpolitik in der OECD-Welt identifiziert.
1. Egalitäre Bildung, starker Sozialstaat. Die skandinavischen Länder unterhalten einen leistungsfähigen Sozialstaat, zudem erreichen sie aber auch beim PISA-Mathe-Test eine hohe Durchschnittskompetenz. Auffällig ist, dass sich in diesen Ländern die Bildungsergebnisse nur schwach nach der sozialen Herkunft der Schüler unterscheiden. Die Staaten lassen vergleichsweise wenig Bildungsarmut zu. Hier zeigt sich, wie beide Aufgabengebiete zusammenspielen - weil Schul- oder Berufsabschlüsse spätere Bedürftigkeit weniger wahrscheinlich machen, entlastet das Bildungssystem den Sozialstaat. Die Forscherinnen betonen: Die beim Vergleich der Bildungs- und Sozialpolitik am besten platzierten Länder haben durchweg egalitäre Bildungssysteme.
2. Egalitäre Bildung, schwacher Sozialstaat. Die USA, Neuseeland und Kanada geben ebenfalls im OECD-Vergleich einen hohen Anteil des Bruttoinlandsproduktes für Bildung aus, außerdem besuchen die Schüler recht lange eine gemeinsame Schule. Dennoch gibt es in diesen Ländern ein teilweise erhebliches Maß an gesellschaftlicher Ungleichheit. Wer einmal auf dem Arbeitsmarkt den Anschluss verloren hat, muss dauerhaft mit Nachteilen leben. Diese Länder wenden nur wenig für die soziale Absicherung auf, der schwache Sozialstaat reduziert einmal entstandene Härten nicht.
3. Selektive Bildung, starker Sozialstaat. Italien, die Niederlande, Deutschland, Ungarn und Spanien verfahren umgekehrt: Sie widmen laut dem OECD-Index "Großzügigkeit der sozialstaatlichen Leistungen" relativ viel Geld der sozialen Sicherung, sparen jedoch bei der Bildung. Deutschland hat zwar im Schnitt ein hohes Bildungsniveau, entlässt aber fast jeden Zehnten ohne Schulabschluss und Berufsausbildung auf den Arbeitsmarkt. Die Bundesrepublik bietet "gute Bildung für wenige", kritisieren die Forscherinnen. Die unzureichende Verknüpfung von Bildungs- und Sozialpolitik äußert sich darin, dass sich Bildungsarmut rasch in materielle Armut wandeln kann und dann den Sozialstaat belastet.
4. Selektive Bildung, schwacher Sozialstaat. Nur vier OECD-Staaten geben für beide Politikziele wenig aus. Die Türkei und Mexiko investieren im Vergleich mit den wohlhabenden Ländern eher geringe Beträge in Bildung und Sozialpolitik. Und in Japan und Südkorea sind zwar die privaten Bildungsausgaben sehr hoch, nicht aber die staatlichen.
Mithilfe dieser Muster analysieren die Wissenschaftlerinnen das Verhältnis zweier gegenwärtig diskutierter sozialpolitischer Leitbilder - den traditionellen Sozialstaat und den von Politikern und Wissenschaftlern als Alternative dazu ins Spiel gebrachten "Sozialinvestitionsstaat". Die Autorinnen definieren die beiden seit etwa zehn Jahren kursierenden Konzepte so: Der Sozialinvestitionsstaat - auch "vorsorgender Sozialstaat" genannt - soll Bürger zu starken Marktakteuren machen, sie mit Fähigkeiten ausstatten und aktivieren. Die Vertreter dieses Leitbilds heben die Bedeutung der Bildungspolitik hervor. Im Gegensatz dazu habe der traditionelle Sozialstaat - auch als "versorgender Sozialstaat" bezeichnet - vor allem das Ziel, Härten des Marktes durch Transferleistungen aufzufangen.
Die Untersuchung der verschiedenen Kombinationen von Bildungs- und Sozialpolitik in den westlichen Industrieländern macht deutlich, dass die beiden Konzepte nicht im Gegensatz zueinander stehen. Sie können durchaus nebeneinander realisiert werden, die nordeuropäischen Beispiele beweisen es. Im Unterschied dazu wurden die Versuche, in Deutschland ebenfalls einen Sozialinvestitionsstaat zu entwickeln, stets von Einschnitten beim Sozialstaat begleitet. Allmendinger und Nikolai warnen jedoch davor, den Sozialstaat zugunsten eines Sozialinvestitionsstaates zu beschneiden: Angesichts des selektiven Bildungssystems könne der Übergang von einem Modell auf das andere nicht gelingen - es mangelt an den Voraussetzungen. "Niedrig Gebildeten fehlen die notwendigen Grundlagen, Aktivierungsangebote auf dem Arbeitsmarkt gehen an ihnen weitgehend vorbei", so die Studie. Die Aktivierungspolitik der Hartz-Gesetze zielte aus diesem Grund ins Leere.
Ein Sozialinvestitionsstaat kann nur auf hoher Bildungsdichte aufbauen, sagen die Forscherinnen. Gegenwärtig seien 22 Prozent der Erwachsenen in den EU-Staaten als bildungsarm zu betrachten: "Diese Personen tragen keinen sozialen Investitionsstaat, in sie wurde noch nicht investiert." Angesichts niedriger Weiterbildungsquoten dürfte sich das kaum ändern. Gute Bildung für breite Bevölkerungsgruppen sei wichtig, schließen die Autorinnen - sie könne soziale Absicherung aber nur ergänzen, nicht ersetzen.
Jutta Allmendinger, Rita Nikolai: Bildungs- und Sozialpolitik: Die zwei Seiten des Sozialstaates im internationalen Vergleich. In: Soziale Welt, Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis 2/2010.