Quelle: HBS
PressemitteilungenInternationaler Mindestlohnreport des WSI: Mindestlöhne: Im EU-Mittel kräftige Zuwächse, in Westeuropa meist über 9,60 Euro, neue Ansätze für europäische Koordination
14.02.2019
Die Mindestlöhne in den 22 EU-Staaten, die über eine gesetzliche Lohnuntergrenze verfügen, sind zuletzt im Mittel kräftig angehoben worden – nominal um 4,8 und nach Abzug der Inflation um 2,7 Prozent. 20 EU-Staaten haben ihre Mindestlöhne zum 1. Januar, zum 1. Februar 2019 oder in der zweiten Hälfte 2018 erhöht, in Großbritannien ist eine Anhebung des National Minimum Wage für April beschlossen. Erstmals seit sieben Jahren stieg zum 1. Februar auch der griechische Mindestlohn wieder. Lediglich in Lettland gibt es aktuell keine Erhöhung. Die nominalen Steigerungen waren die zweitstärksten seit 2009. Das zeigt der neue Mindestlohnbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung. Der deutsche Mindestlohn ist mit 9,19 Euro pro Stunde weiterhin spürbar niedriger als die Lohnuntergrenzen in den westeuropäischen Euro-Staaten, die alle 9,66 Euro und mehr Stundenlohn vorsehen, in Frankreich erstmals über zehn und in Luxemburg sogar 11,97 Euro.
„Insgesamt ist innerhalb der EU bereits seit einigen Jahren ein Trend zu deutlich höheren Mindestlohnsteigerungen zu beobachten, der sich auch 2019 weiter fortgesetzt hat“, schreiben die WSI-Tarifexperten Prof. Dr. Thorsten Schulten und Dr. Malte Lübker. Die höchste Dynamik beobachten die Wissenschaftler in den mittel- und osteuropäischen EU-Ländern, wo die Zuwachsraten aktuell meist zwischen sieben und zehn Prozent liegen. In den west- und südeuropäischen Mitgliedsländern reichen die Anhebungen von 1,4 Prozent in den Niederlanden bis 4,0 Prozent in Deutschland (allerdings für zwei Jahre, da 2018 nicht erhöht wurde), 4,4 Prozent in Großbritannien und 11 Prozent in Griechenland. Spanien und Litauen stechen besonders heraus: Dort wurden die Lohnuntergrenzen zum 1. Januar sogar um gut 22 bzw. um 38 Prozent angehoben – jeweils mit dem erklärten Vorsatz der Regierungen, den Mindestlohn im Verhältnis zu den mittleren Löhnen im Land strukturell zu erhöhen. In Großbritannien hat die konservative Regierung das Ziel ausgegeben, bis 2020 die Lohnuntergrenze auf 60 Prozent des mittleren (Median-)Lohns zu bringen.
Ab diesem Niveau, gemessen am jeweiligen nationalen Median, können Löhne nach Ansicht von Armutsforschern als einigermaßen „existenzsichernd“ gelten, weil Alleinstehende dann in der Regel ohne spezielle Sozialtransfers von ihrer Arbeit leben können und das Risiko von Altersarmut sinkt. Vorschläge, europaweit ein entsprechendes Mindestniveau zu verankern, finden nach Analyse der WSI-Experten zunehmend Unterstützer. So ist im Koalitionsvertrag der Bundesregierung vereinbart, dass sich die deutsche Ratspräsidentschaft im kommenden Jahr um einen „europäischen Rechtsrahmen für Mindestlöhne“ bemühen soll. Die Bundesminister Katarina Barley, Olaf Scholz und Hubertus Heil haben das kürzlich bekräftigt und für 2020 eine entsprechende Initiative angekündigt. Eine europäische Koordinierung mit dem Ziel, in allen Mitgliedsländern beim Mindestlohn „ein angemessenes, existenzsicherndes Niveau“ zu erreichen, könne nationale Initiativen unterstützen und „der Idee eines sozialeren Europas praktische Gestalt verleihen“, schreiben die WSI-Experten Schulten und Lübker.
Trotz der aktuellen Erhöhungen sei der Mindestlohn in den meisten Ländern aber noch ein erhebliches Stück vom 60-Prozent-Ziel entfernt, betonen die Forscher. Das gelte gerade auch für Deutschland, wo der Mindestlohn aktuell nicht einmal die Hälfte des Medianlohns erreicht. Bei 60 Prozent müsste der deutsche Mindestlohn auf annähernd 12 Euro angehoben werden.
In Westeuropa fast überall mehr als 9,60 Euro
In den westeuropäischen Ländern mit Mindestlohn betragen die niedrigsten erlaubten Brutto-Stundenlöhne mit Ausnahme von Großbritannien und Deutschland mehr als 9,60 Euro. In Belgien müssen mindestens 9,66 Euro gezahlt werden, in Irland 9,80 Euro, in den Niederlanden 9,91 Euro und in Frankreich 10,03 Euro. Den mit Abstand höchsten Mindestlohn hat Luxemburg mit 11,97 Euro. Der Mindestlohn in Großbritannien liegt umgerechnet mit aktuell 8,85 Euro und 9,28 Euro ab dem 1. April etwas niedriger, wäre ohne die starke Abwertung des Britischen Pfundes aber deutlich höher. Keinen Mindestlohn haben Österreich, die nordischen Länder und Italien. In diesen Staaten besteht aber meist eine sehr hohe Tarifbindung, die auch vom Staat stark unterstützt wird. Faktisch setzen dort also Tarifverträge eine allgemeine Untergrenze, die, so Schulten und Lübker, „in der Regel oberhalb der gesetzlichen Mindestlöhne in Westeuropa liegt“.
Die südeuropäischen EU-Staaten setzen Lohnuntergrenzen von 3,61 Euro in Portugal und 3,76 Euro in Griechenland bis 5,45 Euro in Spanien. Fast gleichauf liegt mit 5,10 Euro Slowenien. In den meisten anderen mittel- und osteuropäischen Staaten sind die Mindestlöhne noch niedriger. Allerdings haben sie durch die stärkeren Zuwächse weiter aufgeholt. So müssen etwa in Litauen jetzt umgerechnet 3,39 Euro pro Stunde bezahlt werden, in Tschechien 3,11 Euro, in Polen 3,05 Euro und in Rumänien 2,68 Euro. Der niedrigste EU-Mindestlohn gilt in Bulgarien mit 1,72 Euro.
Zudem spiegeln die Niveauunterschiede zum Teil unterschiedliche Lebenshaltungskosten wider. Legt man Kaufkraftstandards (KKS) zugrunde, reduziert sich das Verhältnis zwischen den EU-Ländern mit niedriger und relativ hoher Untergrenze von 1 zu 4 auf 1 zu 2,3. Rumänien liegt bei dieser Betrachtungsweise beispielsweise vor Portugal und Griechenland. Mindestlohnempfänger in Deutschland profitieren etwas vom im westeuropäischen Vergleich niedrigeren Preisniveau. Allerdings bleibt ihre Kaufkraft trotzdem hinter der von Mindestlohnempfängern in Luxemburg, Frankreich und den Niederlanden zurück, Belgien liegt gleichauf.
Deutscher Mindestlohn weiter moderat
Der deutsche Mindestlohn ist auch gemessen am allgemeinen Lohnniveau im Land moderat. Das zeigt ein Blick auf den Medianlohn. Hierzulande entsprach der Mindestlohn 2017, dem letzten Jahr, für das internationale Vergleichsdaten vorliegen, knapp 48 Prozent des Medianlohns. 12 EU-Länder kamen auf höhere Werte, darunter Portugal, Polen, Großbritannien oder Luxemburg. Weit vorne im EU-Vergleich rangiert Frankreich, wo die Untergrenze bei 61,8 Prozent des Medians liegt.
Auch außerhalb der EU sind Mindestlöhne weit verbreitet, und sie wurden fast überall zum Jahresanfang spürbar angehoben. Exemplarisch betrachtet das WSI die Mindestlöhne in 15 Ländern mit ganz unterschiedlichen Mindestlohnhöhen. Sie reichen von umgerechnet 78 Cent in Moldawien und der Ukraine, 88 Cent landesweit in Russland und 1,05 Euro in Brasilien über 2,30 Euro in der Türkei, 6,14 Euro in den USA und 6,70 Euro in Japan bis zu 9,67 Euro in Neuseeland und 11,98 Euro in Australien. Insbesondere in den USA gibt es neben dem nationalen Mindestlohn höhere regionale Untergrenzen. Der höchste Mindestlohn auf der Ebene von Bundesstaaten gilt in Kalifornien, Massachusetts und Washington (12 Dollar, umgerechnet 10,16 Euro). Darüber hinaus führen immer mehr Städte lokale Mindestlöhne ein, die weit über dem nationalen und regionalen Niveau liegen. So müssen Arbeitnehmer in Seattle mindestens 16 Dollar (13,55 Euro) erhalten, in New York City und San Francisco umgerechnet 12,70 Euro.
Weitere Informationen:
Malte Lübker, Thorsten Schulten: WSI-Mindestlohnbericht 2019: Zeit für kräftige Lohnzuwächse und eine europäische Mindestlohnpolitik (pdf). WSI-Report 46, Februar 2019.
Kontakt:
Prof. Dr. Thorsten Schulten
Leiter WSI-Tarifarchiv
Dr. Malte Lübker
WSI-Tarifexperte
Rainer Jung
Leiter Pressestelle