Projektbeschreibung
Kontext
Für HilfsarbeiterInnen galt um 1900 wie für qualifizierte Arbeitskräfte das Koalitionsrecht. Allerdings war es für Un- oder Angelernte schwieriger, starke und handlungsfähige Verbände aufzubauen, nicht zuletzt, weil sich die Facharbeitergewerkschaften selten aktiv solidarisch verhielten. Noch schwieriger war es für weibliche Hilfskräfte, in der männerdominierten Gewerkschaftsbewegung eine wirksame Interessenvertretung aufzubauen.
In dieser politischen und gesellschaftlichen Gemengelage gelang es den Hilfsarbeiterinnen und Hilfsarbeitern im Buchdruckgewerbe, eine stabile, anwachsende Organisation aufzubauen und in harten Auseinandersetzungen ihr Einkommen und die Arbeitsbedingungen zu verbessern.
Fragestellung
In der Person Paula Thiede und ihrem Wirken kreuzten sich verschiedene, für Gewerkschaften noch heute relevante gesellschaftliche (Macht-)Verhältnisse, insbesondere Geschlecht, Klasse und Ausbildungsstand. Zielsetzung der Studie war es, die daraus resultierenden Spannungsfelder und Machtverhältnisse am Beispiel der Hilfsarbeiterinnen im Druckgewerbe zu analysieren und zu untersuchen, wie diese sich angesichts komplexer Machtverhältnisse erfolgreich gewerkschaftlich organisierten. Teil dieser Aufgabe war es dabei, zu ergründen, wie sich Paula Thiede in der patriarchal geprägten Kultur des Kaiserreiches (und der Gewerkschaften) durchzusetzen vermochte. Dabei wurde unter anderem gefragt, welche Rolle die Unterstützung durch bislang unterbeleuchtete Netzwerke (gewerkschafts-)politisch aktiver Frauen dabei gespielt hat, mit Paula Thiede die weltweit erste Vorsitzende einer gemischtgeschlechtlichen Gewerkschaft wählen zu können.
Untersuchungsmethoden
Zur Erarbeitung des Projekts wurden einige grundlegende geschichtswissenschaftliche Methoden (intensive Quellenarbeit, qualitative Textanalyse, Sozialgeschichte, Wirtschaftsgeschichte, reflektiertes biografisches Vorgehen) durch eine intersektionale Perspektive ergänzt. Alltags- und mikrogeschichtliche Aufmerksamkeit führten zudem zu höchst interessanten Einblicken in den Alltag proletarischer Gewerkschaftsarbeit.
Im Projekt entstand mit voller Absicht kein Beitrag zur theoretischen Debatte um „Intersektionalität“, vielmehr wurde deren (historische) Empirie ausgebreitet und der Zusammenhang zwischen Sprache, subjektiven Wahrheiten und (politischem) Handeln einbezogen.
Darstellung der Ergebnisse
Das Projekt erzielte Ergebnisse in verschiedenen Teilbereichen. Generell konnte das Verständnis der Lebenswirklichkeit proletarischer Frauen im Kaiserreich um neue Aspekte bereichert werden, insbesondere mit Blick auf Arbeitskämpfe und gewerkschaftliche Organisierung. MIt den "Arbeitsnachweisen" konnte eine wichtige, aber in Vergessenheit geratenen Strategie gewerkschaftlicher Kämpfe wiederentdeckt werden. Die Organisationen der Buchdruckerei-HilfsarbeiterInnen zeigten auf, dass und wie eine "geschlechtersensible" Gewerkschaftsarbeit schon in den Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg möglich war. In den Projekt-Publikationen wird deutlich, welche Ausgangsvoraussetzungen dafür wirksam waren, welche Strategien entwickelt wurden und welche Erfolge dadurch erzielt werden konnten. Die systematische Einbindung von weiblichen Funktionärinnen war ein erfolgreiches Instrument, der geschlechtergerechte Umbau des gewerkschaftseigenen Unterstützungswesens ein weiteres. Die organisationsinternen Fortschritte ermöglichten der Gewerkschaft darüber hinaus politische Wirksamkeit, der z.B. in ihrem Beitrag zur Einführung des Weltfrauentags deutlich wird.