Projektbeschreibung
Kontext
Soziale Ungleichheit ist eines der drängendsten Probleme zeitgenössischer Demokratien. Mit der globalen Banken- und Finanzkrise, die im Jahr 2008 ihren Ausgang nahm, wurden sie zunehmend mit ungleichheitsbezogenen Problematisierungen konfrontiert. Dabei hat sich herausgestellt, dass durch die Intensivierung der öffentlichen Debatte über Zustand, Ursachen und Folgen von sozialer Ungleichheit nicht nur die Umstrittenheit des Phänomens soziale Ungleichheit gestiegen ist, sondern der Ungleichheitsdiskurs auch von neuen Deutungsrahmen strukturiert wird. Das Projekt hat den Versuch unternommen, diese veränderten Bedingungen des Ungleichheitsdiskurses in Deutschland aufzuspüren und seinen kommunikativen Kontext neu zu bestimmen.
Fragestellung
Wie wird in Deutschland über sozioökonomische Ungleichheit gesprochen?
Wie hat sich der sozioökonomische Ungleichheitsdiskurs im Zuge der Finanzkrise verändert?
Welche Erzählungen und Akteurskonstellationen prägen den Ungleichheitsdiskurs?
Welche Deutungen, Bilder und Metaphern werden aufgegriffen, wenn über Ungleichheit gesprochen wird?
Wie wirkt der Ungleichheitsdiskurs auf die Denk- und Handlungsmöglichkeiten der beteiligten Akteure zurück?
Wie lässt sich die Diskrepanz zwischen einem „lauten“ Ungleichheitsdiskurs in der Öffentlichkeit und einer vergleichsweise stummen Gleichheitspolitik der politischen Akteure erklären?
Welche Unterschiede lassen sich in Bezug auf den Umgang mit der Ungleichheitsfrage in den Diskursräumen des Politikmanagements erkennen?
Untersuchungsmethoden
Die Studie wurde an der Schnittstelle von Regierungsforschung und politischer Diskursforschung durchgeführt. Sie ist in zwei Teile gegliedert. Zunächst wurde im Rahmen eines triangulativen Forschungsdesigns ein korpusanalytischer Datensatz erstellt. Das an der NRW School of Governance der Universität Duisburg-Essen angesiedelte PolMine-Projekt (http://polmine.sowi.uni-due.de/polmine/) hat den deutschen Ungleichheitsdiskurs seit 2008 erstmals effizient zu vermessen erlaubt und die Schlüsselmomente des Diskursverlaufs identifizierbar gemacht. Durch Interviews mit politischen Entscheidungsträgerinnen und -trägern ebenso wie mit Expertinnen und Experten des Ungleichheitsdiskurses wurden diese Momente dann nach den diskursstrukturierenden Storylines und Koalitionen abgefragt. Der zweite Teil hat sich, um den Sachverhalt präziser erfassen zu können, mit den Armuts- und Reichtumsberichten der Bundesregierung befasst und ihre interne Forschungslogik mittels qualitativer rekonstruiert.
Darstellung der Ergebnisse
Die Analyse hat drei Storylines identifiziert. Das sind a) eine liberal-konservative Erzählung, in deren Mittelpunkt das Leistungsversprechen moderner Gesellschaften steht, b) die Erzählung der Kompromissgesellschaft, mithilfe derer die negativen Auswirkungen sozioökonomischer Ungleichheit adressierbar werden, und c) die Erzählung der Abstiegsgesellschaft, durch die sich teilweise radikale Systemkritiken und Handlungsalternativen konstituieren. Es hat sich dabei herausgestellt, dass diese Storylines nicht nur konfrontativ verfasst sind, sondern auf narrativen Praktiken beruhen, die das Feld ihrer Schnittmengen zu verändern erlauben.
Mit der Analyse der Armuts- und Reichtumsberichte wurde die narrative Praxis näher ausgeleuchtet. Ihr zentrales Ergebnis ist, dass die politische Kommunikation über sozioökonomische Ungleichheit einen wiederkehrenden Politisierungseffekt erlebt, der demokratietheoretisch zwar zu begrüßen ist, dessen Effekte aber aufgrund der Dominanz statistischer Methoden die subjektive Seite der Ungleichheitserfahrung nicht einbeziehen kann und die Kontroverse sich überwiegend in unabschließbaren Dateninterpretationsstreitigkeiten äußert.