Forschungsprojekt: Neue Digitalisierung im Finanzdienstleistungssektor

Eine empirische Untersuchung aus soziologischer, ökonomischer & juristischer Perspektive.

Projektziel

Der Finanzdienstleistungssektor wurde in der Digitalisierungsforschung bisher zu wenig beachtet. Dabei forcieren Banken und Versicherungen gegenwärtig Automatisierung, Informatisierung und Digitalisierung – mit potentiell weitreichenden Folgen für Geschäftsmodelle und Beschäftigung. Reichweite und Wirkungen einer „neuen“ Digitalisierung in diesem Sektor sind deshalb Gegenstand dieses Projekts.

Veröffentlichungen

Eden, Theresa, Oliver Werth, Davinia Rodriguez Cardona, Christoph Schwarzbach, Michael H. Breitner und Matthias Graf von der Schulenburg, 2022. Influences of Digital Innovations on Advisory Work in the Financial Services Sector, Die Unternehmung - Swiss Journal of Business Research and Practice, 76(1), S. 6-27.

Tullius, Knut, 2021. Digitalisierung im Finanzdienstleistungssektor. Folgen für Angestelltenarbeit an der Front-Line, WSI Mitteilungen, 74(4), S. 274-238.

Tullius, Knut, 2021. Digitalisierung und Angestelltenarbeit im Finanzdienstleistungssektor. – systemische Rationalisierung reloaded?, In: Buss/ Kuhlmann/ Weißmann/ Wolf/ Apitzsch (Hrsg.), Digitalisierung und Arbeit. Triebkräfte – Arbeitsfolgen – Regulierung. Digitalisierung und Arbeit. Triebkräfte – Arbeitsfolgen – Regulierung, Frankfurt M./New York: Campus, S. 145-171.

Buss, Klaus-Peter, Herbert Oberbeck und Knut Tullius, 2021. Systemische Rationalisierung 4.0. Wie Wettbewerb und Geschäftsmodelle die Digitalisierung in Handel, Logistik und Finanzdienstleistungen prägen, Berliner Journal für Soziologie, S. 1.

Tullius, Knut, 2020. Digitalisierung und Systemische Rationalisierung im Finanzdienstleistungssektor. - Folgen für Angestelltenarbeit an der "Front-Line", SOFI Arbeitspapier / Working Paper 18, Göttingen: Sozialforschungsstelle Göttingen (SOFI), 37 Seiten.

Werth, Oliver, Christoph Schwarzbach, Davinia Rodriguez Cardona, Michael H. Breitner und Matthias Graf von der Schulenburg, 2020. Influencing factors for the digital transformation in the financial services sector, Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft, 109(2), S. 155-179.

Projektbeschreibung

Kontext

Der Dienstleistungssektor, auch der Finanzdienstleistungssektor, hat in der Digitalisierungsforschung bisher wenig Aufmerksamkeit erhalten – der Fokus lag auf „Industrie 4.0“. Dies mag damit zu tun haben, dass Geschäfts- und Arbeitsprozesse gerade auch in Banken und Versicherungen bereits seit längerem zu den am stärksten automatisierten und informatisierten Bereichen zählen. Gegenwärtig forcieren Unternehmen dieser Branchen freilich die Digitalisierung. Wie sich Geschäftsmodelle und -strategien, Geschäfts-, Arbeits- und Innovationsprozesse unter Bedingungen einer ‚neuen‘ Digitalisierung in der Finanz- und Versicherungswirtschaft konkret verändern und welche Wirkungen dies auf Dienstleistungsprozesse und Dienstleistungsarbeit in den Betrieben hat, ist freilich unklar: vorliegende Prognosen basieren allein auf Expertenmeinungen oder standardisierten Befragungen.

Fragestellung

Im Forschungsvorhaben wurden Digitalisierungsprozesse in Betrieben des Finanzdienstleistungssektors empirisch untersucht. Dabei wurden arbeitssoziologische, betriebswirtschaftliche und juristische Perspektiven berücksichtigt. Wichtige Fragen für die empirischen Analysen waren unter anderem:

- Welche Reichweite und Tiefe haben aktuelle Prozesse der Automatisierung, Industrialisierung und Digitalisierung in Banken und Versicherungen?

- Wie entwickeln sich Geschäftsmodelle und -strategien sowie Arbeits- und Innovationsprozesse unter Bedingungen einer „neuen“ Digitalisierung?

- Welche Perspektiven von (qualifizierter) Dienstleistungsarbeit sind mit neuartigen Digitalisierungstechnologien verbunden?

- Wie wird „digitale“ Arbeit von den betrieblichen Akteuren, nicht zuletzt auch von den betrieblichen Interessenvertretungen, bewertet und (mit-)gestaltet?

- Welche arbeits- und datenschutzrechtlichen Problemlagen sind betrieblich virulent?

Untersuchungsmethoden

Die Erhebungen folgten einem dreistufigen Vorgehen:

1. Expertengespräche mit Vertreterinnen und Vertretern der Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaft ver.di sowie weiteren Branchenexpertinnen und -experten.

2. Betriebliche Fallstudien in verschiedenen Organisationsbereichen aus jeweils drei Unternehmen des Bank- bzw. Versicherungsgewerbes, in denen Digitalisierungsprozesse unterschiedlicher Art stattgefunden haben („Digitalisierungsfälle“). Insgesamt konnten zwischen Mai 2018 und Oktober 2019 in zehn Fallstudien 58 leitfadengestützte Experteninterviews (Vorstandsebene, Linien-/Bereichsmanagement, IT/Organisation, HR, BR/PR), 22 ausführliche, leitfadengestützte Beschäftigteninterviews in Front- und Back-Office-Bereichen sowie 9 Arbeitsplatzbeobachtungen (vier bei Finanzdienstleistern, fünf bei Versicherungen) realisiert werden.

3. Ergebnispräsentationen in beteiligten Unternehmen.

Darstellung der Ergebnisse

Ein Bruch mit etablierten Geschäftsmodellen oder eine breitflächige Anwendung grundlegender technischer Neuerungen ist nicht erkennbar. Vielmehr beobachten wir systemische Rationalisierungsprozesse auf „erweiterter Stufenleiter“, mit der die Finanzdienstleistungen auf neue technologische Potentiale und veränderte Wettbewerbskonstellationen reagieren.

Mit Blick auf Arbeit zeigt sich: Die notwendig bleibende Kommunikationsbezogenheit der Dienstleistung stellt eine grundlegende Hürde für eine Substitution qualifizierter Sachbearbeitung und Kundenberatung durch „Maschinen“ dar. Zugleich wird sich die technologische Ersetzung von Routinetätigkeiten vor allem im Back-Office fortsetzen.

Beobachten lässt sich eine Veränderung der Führungsanforderungen im Zusammenhang mit der neu eingeführten „agilen Arbeit“. Freilich müssen Unternehmenskultur und Back-End-Systeme auf die neuen kundenzentrierten Produkte und Dienstleistungen vorbereitet werden, die in agilen Arbeitsumgebungen entwickelt werden.

Aus arbeitsrechtlicher Sicht virulent sind Fragen zu Änderungen des Tätigkeitsprofils durch moderne Technologien, zur Zulässigkeit von Leistungskontrollen sowie zum häuslichen und mobilen Arbeiten.

Projektleitung und -bearbeitung

Projektleitung

Prof. Dr. Berthold Vogel
Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) e.V. an der Georg-August-Universität

Prof. Dr. J. Matthias Graf von der Schulenburg
Leibniz Universität Hannover Institut für Versicherungsbetriebslehre (IVBL)

Prof. Dr. Michael H. Breitner
Leibniz Universität Hannover Institut für Wirtschaftsinformatik (IWI)

Bearbeitung

Dr. Knut Tullius
Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) e.V. an der Georg-August-Universität

Oliver Werth
Leibniz Universität Hannover Institut für Wirtschaftsinformatik (IWI)

Lisa Kammann
Leibniz Universität Hannover Institut für Versicherungsbetriebslehre (IVBL)

Davinia Rodriguez Cardona
Leibniz Universität Hannover Institut für Wirtschaftsinformatik (IWI)

Dr. Christoph Schwarzbach
Leibniz Universität Hannover Institut für Versicherungsbetriebslehre (IVBL)

Prof. Dr. Felipe Temming
Leibniz Universität Hannover Juristische Fakultät
Gebäude 1502, Raum 935

Kooperationspartner

Prof. Dr. Thomas Haipeter
Universität Duisburg-Essen Institut Arbeit und Qualifikation IAQ
Raum LE 526

Kontakt

Dr. Saskia Freye
Hans-Böckler-Stiftung
Forschungsförderung

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