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HBS Böckler Impuls

Europa: Grenzenlos prekär

Ausgabe 15/2017

Der reguläre deutsche Arbeitsmarkt war Osteuropäern lange Zeit versperrt. Stattdessen haben  sich viele als Saisonarbeiter, entsandte Arbeitnehmer oder Soloselbstständige verdingt.

Als mehrere osteuropäische Länder in den 2000er-Jahren in die EU eintraten, herrschte große Furcht vor einem Zustrom billiger Arbeitskräfte. Um den deutschen Arbeitsmarkt abzuschotten, wurde die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Bürger der neuen Mitgliedsstaaten durch Übergangsregelungen eingeschränkt. Die Restriktionen hatten jedoch eine unerwünschte Nebenwirkung, wie eine Studie der Politologin Bettina Wagner von der Hertie School of Governance und der WSI-Direktorin Anke Hassel zeigt. Zahlreiche Migranten mussten in atypische Jobs ausweichen – und landeten damit oft in einer Grauzone des Arbeitsmarkts.

Der Untersuchung zufolge, für die Wagner und Hassel Daten des Statistischen Bundesamts und der Bundesagentur für Arbeit ausgewertet haben, waren 2014 in Deutschland 3,6 Millionen Bürger aus dem EU-Ausland registriert. Der Anteil der Osteuropäer hat über die Jahre deutlich zugenommen, insbesondere nach den Erweiterungsrunden 2004 und 2007. Bürger aus den 2004 beigetretenen Staaten – Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn – machten 2005 etwa 60 Prozent der Neuanmeldungen von EU-Ausländern aus. Nach dem Beitritt von Bulgarien und Rumänien im Jahr 2007 verdoppelte sich der Anteil aus diesen beiden Staaten, 2015 entfiel gut ein Drittel der Neuanmeldungen auf sie. 

Die Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit habe nur für reguläre Beschäftigungsverhältnisse gegolten, während atypische Jobs nicht betroffen waren, schreiben die Forscherinnen. Die Folge: Bürger aus den neuen EU-Mitgliedsstaaten waren gezwungen, mit prekärer Beschäftigung vorliebzunehmen, um auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen.

Besonders häufig genutzt wurde das Instrument der Arbeitnehmerentsendung. Dabei bleiben Beschäftigte in ihrem Herkunftsland angestellt, zahlen dort Steuern und Sozialversicherungsbeiträge. Auch das Lohnniveau richtet sich nach den heimischen Bedingungen – sofern es nicht gesetzlich im Gastland geregelt ist. Das Arbeitnehmerentsendegesetz macht Tariflöhne nur für bestimmte Branchen wie das Baugewerbe oder Reinigungsdienste verbindlich, ansonsten gilt seit 2015 der Mindestlohn.

Die Zahl der entsandten Arbeitnehmer hat sich zwischen 2006 und 2013 bis auf 373 000 versechsfacht. Das mit Abstand wichtigste Herkunftsland ist Polen, danach folgen die Slowakei, Ungarn und Rumänien. Laut einer Studie der EU-Kommission ist Deutschland das Hauptziel für Entsendungen, während regulär Beschäftigte aus Osteuropa hierzulande vergleichsweise selten sind. Dabei hätten Studien gezeigt, dass viele Unternehmen Entsendungen nutzen, um Tarifstandards zu unterminieren und gesetzliche Vorgaben zu umgehen, so die Autorinnen.

Ein ähnlich problematisches Phänomen stellt der Studie zufolge Soloselbstständigkeit dar. Dank der Dienstleistungsfreiheit hat jeder EU-Bürger das Recht, in einem beliebigen Mitgliedsland ein Unternehmen zu gründen. In den Jahren seit 2005 ist die Zahl der Gewerbeanmeldungen von Polen, Rumänen und Bulgaren deutlich gestiegen. Dabei ist dieser Weg nicht immer selbst gewählt. In vielen Fällen würden Migranten reguläre Jobs versprochen, um sie dann in die Scheinselbstständigkeit zu drängen, schreiben die Wissenschaftlerinnen. 

Bereits vor der EU-Erweiterung spielte Saisonarbeit eine wichtige Rolle, also Tätigkeiten, die höchstens sechs Monate dauern. Die Zahl der Genehmigungen für solche Arbeitsverhältnisse hat sich zwischen 1991 und 2004 auf 334 000 vervierfacht. Aus Polen kamen nach 2004 weniger, aus Rumänien deutlich mehr Saisonarbeiter. 2011 gingen 93,4 Prozent aller entsprechenden Arbeitserlaubnisse an Rumänen.

Als Fazit halten Wagner und Hassel fest, dass durch die Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit ein „ungeschützter Markt für Migranten“ aus Osteuropa entstanden ist. Die Übergangsregelungen, die eigentlich heimische Beschäftigte vor Wettbewerb schützen sollten, hätten so letztlich zu noch stärkerem Wettbewerbsdruck auf Lohnniveau und Arbeitsbedingungen in den betroffenen Branchen beigetragen. Zu hoffen sei zwar, dass die Abwärtsspirale bei den Löhnen mit der Einführung des Mindestlohns und der Möglichkeit, die Geltung von Tarifverträgen auf alle Arbeitnehmer einer Branche auszuweiten, ein Ende findet. Wirksame Maßnahmen zur Beschränkung und Kontrolle von Scheinselbstständigkeit stünden aber noch aus. 

  • Die Zahl der entsandten Arbeitnehmer hat sich zwischen 2006 und 2013 insgesamt versechsfacht. Zur Grafik

Bettina Wagner, Anke Hassel: Arbeitsmigration oder Auswanderung? Eine Analyse atypischer Arbeitsmigration nach Deutschland, WSI-Mitteilungen 6/2017 

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