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HBS Böckler Impuls

Soziales Europa: Schöne Worte, wenig Substanz

Ausgabe 13/2016

Die EU-Kommission hat eine Initiative zur Stärkung der Arbeitnehmerrechte versprochen. Doch die angekündigte „soziale Säule“ erweist sich bei näherem Hinsehen als wackelig.

„Die von mir geleitete Europäische Kommission hat“, so Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im Juni, „einen europaweiten Dialog zur Schaffung einer sozialen Säule eröffnet, womit wir vor allem auch die Arbeitnehmerrechte stärken wollen“. Ein erster Entwurf mit dem Titel „Die europäische Säule sozialer Rechte“ (The European Pillar of Social Rights) gelangte bereits im vergangenen Jahr an die Öffentlichkeit. Im März 2016 sind weitere EU-Papiere erschienen, aus denen im Laufe dieses Jahres ein Dokument „mit rechtsverbindlichem Charakter“ werden soll. Die Rechtsexperten Klaus Lörcher und Isabelle Schömann vom Europäischen Gewerkschaftsinstitut haben die kursierenden Schriftstücke analysiert. Ihr Urteil: Mangelhaft!

Die zunächst vergleichsweise ambitionierten Pläne seien bereits jetzt stark verwässert, sagen Lörcher und Schömann. Die ursprüngliche Absicht, ein Regelwerk zu schaffen, das Europa – in Anlehnung an die von Ratingagenturen vergebenen Noten für Wertpapiere – ein „soziales Dreifach-A“ einbringe, werde nun nicht mehr formuliert. Auch die 2015 von Juncker geforderte „gleiche Bezahlung für den gleichen Job am gleichen Ort“ komme nicht mehr vor. An die Stelle von Rechten und Vorschriften traten weniger verbindliche Formulierungen.

Zudem fragen die Rechtsexperten: Warum zielt die Initiative nur auf die Währungsunion, nicht auf die ganze EU? Und: Wieviel Soziales steckt wirklich hinter den Plänen? Der grundsätzliche Standpunkt der EU-Kommission sei klar, so Lörcher und Schömann. Die „soziale Säule“ werde keineswegs als Wert an sich betrachtet, sondern lediglich als Hilfsmittel für ungestörtes Wirtschaftswachstum. Dass es hier nicht um einen Paradigmenwechsel gehe, sei schon daran zu erkennen, dass auch der Ladenhüter „Flexicurity“ Eingang in das Konzept gefunden habe. Skeptisch stimmen außerdem die jüngsten Äußerungen der Kommission zu Mitbestimmung; ihre Juristen haben zuletzt Argumente derer übernommen, die Mitbestimmung im Aufsichtsrat mithilfe des Europäischen Gerichtshofs zu Fall bringen wollen. So bezweifeln die ETUI-Experten, dass die geplante „soziale Säule“ Beschäftigten oder Arbeitslosen irgendeine substanzielle Verbesserung bringen wird.

Neben dem unklaren rechtlichen Status, einem unstimmigen Aufbau und fraglichen Zielen kritisieren Lörcher und Schömann am Pillar-of-Social-Rights-Entwurf, dass es an eindeutigen Bezügen zu bestehenden Sozialstandards mangelt. Das gilt etwa für die Normen der Internationalen Arbeitsorganisation oder die Europäische Sozialcharta. Außerdem fehlen festgeschriebene Rechte auf die Bildung von Gewerkschaften, kollektive Tarifverhandlungen und Streiks. Ergänzt werden sollten Rechte auf „Arbeit in Würde“, vernünftige Arbeitszeiten, den Schutz persönlicher Daten, die freie Meinungsäußerung inklusive Whistleblowing und den Schutz bestimmter Arbeitnehmergruppen, zum Beispiel Älterer oder Behinderter. Es sollte sichergestellt werden, dass diese Rechte auch durchsetzbar sind, so die Autoren. Dabei müsse eindeutig klargestellt werden: Europäische Mindeststandards dürfen nie dazu dienen, bessere Regelungen in einzelnen Ländern auszuhebeln.

Allerdings spricht nicht viel dafür, dass diese Ziele mit der amtierenden EU-Kommission zu verwirklichen sind. Ein Blick zurück zeigt: Die jüngsten Sozialinitiativen – Solemn Declaration on Workers’ Rights und Posted Worker Directive von 2009 oder eine 2012 angekündigte Social Roadmap – sollten die irische Volksabstimmung über den Vertrag von Lissabon beeinflussen, die Wiederwahl des damaligen Kommissionspräsidenten Barroso sichern oder die Akzeptanz der Währungsunion erhöhen. Faktisch verliefen sie im Sande. Keine der drei Initiativen sei ein nennenswerter Schritt in Richtung eines sozialeren Europas gewesen, schreiben Lörcher und Schömann.

   

Mitbestimmung im Aufsichtsrat – die Position der EU-Kommission

In mitbestimmten Unternehmen wählen Beschäftige ihre Interessenvertreter in den Aufsichtsrat. Wahlberechtigt sind nur Beschäftigte in Deutschland, die Belegschaften der Auslandsgesellschaften und -filialen dürfen nicht mit abstimmen – weil Deutschland nicht in die Rechte anderer Länder eingreifen und ihnen Regeln zur Aufsichtsratswahl vorschreiben kann. Mitbestimmungskritiker konstruieren daraus ein Argument gegen die Unternehmensmitbestimmung: Die Auslandsbeschäftigten würden diskriminiert und dies sei nicht mit EU-Recht vereinbar. Der Europäische Gerichtshof muss nun entscheiden, vermutlich Anfang des kommenden Jahres.

Die EU-Kommission hat in diesem Rechtsstreit Stellung bezogen – und die Position der Mitbestimmungsgegner unkritisch übernommen. Doch ihre Argumentation enthalte „zweifelhafte und wenig zielführende Deutungen“, urteilt der Göttinger Arbeitsrechtler Rüdiger Krause. Sie habe sich zudem nicht umfassend mit dem vermeintlichen Problem auseinandergesetzt. Gegenargumente würden schlicht übergangen.

Schon der gedankliche Ansatz der Kommission ist Krause zufolge problematisch. Sie gehe nämlich davon aus, dass das deutsche Mitbestimmungsrecht unter Rechtfertigungszwang steht. Tatsächlich sei es an den Klägern, „eine konkrete deutsche Vorschrift zu benennen, die unionsrechtswidrig sein soll“. Dies sei bislang nicht geschehen. Irreführend ist es nach Krauses Auffassung auch, von einer „Verweigerung des Wahlrechts“ für Beschäftigte im Ausland zu sprechen. Die Mitbestimmungsgesetze verweigern niemandem etwas, der deutsche Gesetzgeber kann bloß keine Vorschriften für Arbeitnehmer außerhalb des Geltungsbereichs des deutschen Rechts erlassen. Die Beschäftigten eines „in mehreren Mitgliedstaaten operativ tätigen Konzerns“ fallen zwangsläufig unter verschiedene „Arbeitsrechts- und Sozialkulturen“, so Krause. Arbeitnehmer bei einer französischen Auslandstochter würden ebenso wenig „von der Mitbestimmung ausgeschlossen“ wie sie vom deutschen Kündigungsschutz „ausgeschlossen“ werden.

Rüdiger Krause: Nagelprobe EuGH (pdf), Mitbestimmungs-Report Nr. 23, Juni 2016

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