Quelle: HBS
Magazin MitbestimmungInterview: "Strahlkraft für Europa"
Reiner Hoffmann, der Vorsitzende des DGB, erklärt, wie das Gesetz von 1976 die Republik verändert hat und wie Europa und andere Länder davon profitieren. Das Gespräch führten Margarete Hasel und Kay Meiners.
Kollege Hoffmann, 1976 waren Sie gerade volljährig, junges Mitglied der Gewerkschaft Chemie-Papier-Keramik und mit einem Böckler-Stipendium unterwegs zu einem akademischen Abschluss. Hat in Ihrer Szene das Mitbestimmungsgesetz überhaupt eine Rolle gespielt?
Sogar eine große! Einer meiner Professoren an der Gesamthochschule Wuppertal, Eckhard Kappler, war als Gutachter für das Mitbestimmungsgesetz tätig. Und wir Studenten diskutierten intensiv, wie die Idee der Mitbestimmung in die klassische Betriebswirtschaftslehre integriert werden kann.
Das Gesetz war auch bei den Gewerkschaften umstritten. Wie zufrieden waren Sie persönlich?
Es war eine Enttäuschung und ein Erfolg zugleich. Eine Enttäuschung insofern, als es hinter der Montanmitbestimmung zurückblieb. Das Doppelstimmrecht des Aufsichtsratsvorsitzenden empfanden wir jungen Gewerkschafter als Skandal, ebenso den Sitz für den leitenden Angestellten. So was ging gar nicht! Beides sind Webfehler, die wir bis heute nicht korrigieren konnten. Trotzdem war das Gesetz ein großer Fortschritt.
Was hat Sie als junger Mensch eigentlich davon überzeugt, dass Arbeitnehmer in die Aufsichtsräte gehören?
Die Mitbestimmung durfte nicht im Betrieb aufhören, wenn man die Wirtschaft demokratisch gestalten wollte. Mir war sehr bewusst, dass im Aufsichtsrat Strategie-, Standort- und Investitionsentscheidungen fallen, die erhebliche Auswirkungen auf die Beschäftigten und die Gesellschaft haben können. Deshalb dürfen nicht allein die Kapitaleigner das Sagen haben.
Das Gesetz von 1976 war ein Sieg der Politik über das Kapital. Wie hat sich die Kultur in den Aufsichtsräten und Unternehmen seither verändert?
Tatsächlich haben sich die Unternehmenskulturen sehr unterschiedlich entwickelt. Es gibt aufgeklärte Manager, die den Mehrwert der Mitbestimmung erkennen. Aber wir erleben immer noch, dass die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat als lästiges Übel angesehen werden. Man sollte nicht die Illusion haben, dass Unternehmen generell ihren Frieden mit der Unternehmensmitbestimmung gemacht haben. Denn es war eine erzwungene Öffnung, gegen die sich die Arbeitgeber mit den absurdesten Argumenten gewehrt hatten. Noch heute gibt es Manager, die der Meinung sind, dass die Mitbestimmung in Deutschland den schnellen Kahlschlag bremst. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen.
Haben Sie selbst Anfeindungen erlebt?
Es ist einige Jahre her, da saß ich im Aufsichtsrat eines südafrikanischen Chemiekonzerns, der nach Deutschland und Europa expandierte. Die Manager hatten keinerlei Erfahrung mit Mitbestimmung, sie waren wohl auch extrem verunsichert. Rund fünf Jahre hat es gedauert, bis sie merkten, dass auch wir die Interessen des Unternehmens im Blick haben. So haben wir einmal einen vorschnellen, rein kennzifferngetriebenen Verkauf eines Unternehmensteils verhindert. Als dieser Bereich wieder schwarze Zahlen schrieb, hat die andere Seite begriffen. Einen solchen Perspektivenwechsel konnten wir mehrfach beobachten. Die Sensibilität unseren Argumenten gegenüber hat zugenommen.
In welchen Situationen während der letzten 40 Jahre war die Unternehmensmitbestimmung für die Gesellschaft besonders wichtig?
Bei dem tiefen Strukturwandel im Ruhrgebiet, bei dem wir uns bis 2018 von einer ganzen Branche verabschieden, spielt die Mitbestimmung eine positive Rolle. Es hat solche Umbrüche in der Geschichte auch in anderen Ländern immer gegeben. Keiner wurde für die Beschäftigten und die Region so gut abgefedert, wie es uns in der Montanindustrie gelungen ist.
Kritiker sagen, dass dieser mitbestimmte Strukturwandel viel zu lange gedauert und viel zu viel Geld gekostet hat.
Das ist Unfug. Gerade in der Entschleunigung eines Prozesses, der sonst eruptiv verlaufen wäre, zeigt sich der hohe Wert der Mitbestimmung. Was wäre die Alternative gewesen? Den Strukturwandel etwa mit fürchterlichen Kollateralschäden rasch abwickeln? Wir erleben es doch jetzt mit der Energiewende wieder: Der Weg in eine nachhaltige CO²-freie Zukunft braucht einfach Zeit. Unser Gütezeichen ist, dass wir nicht mit hoher Geschwindigkeit zu jedem Preis Strukturen vernichten.
Gilt das auch für das einzelne Unternehmen?
Die größte Finanzkrise, die wir seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben, hat in Deutschland wesentlich geringere Kollateralschäden hinterlassen als in anderen Ländern. Das hat sicher mehrere Gründe – aber einer davon ist die Mitbestimmung in den Unternehmen und Betrieben. In den Aufsichtsräten und Betriebsräten wurden die Folgen der Krise für die Beschäftigten und Überbrückungsstrategien diskutiert – und umgesetzt.
Trotz dieser positiven Bilanz haben DGB und die Hans-Böckler-Stiftung zum Jubiläumsjahr eine große Kampagne unter dem Namen „Offensive Mitbestimmung“ gestartet. Was ist der Hintergrund?
Wir haben einen Rückgang der mitbestimmten Unternehmen von rund 770 zu Spitzenzeiten auf jetzt 635. Das hat viele Gründe. In die Offensive gehen heißt, die gute Praxis, die es gibt, öffentlich deutlicher zu zeigen. Mitbestimmung im Unternehmen und im Betrieb sorgt für gute Arbeit. Das ist die zentrale Erzählung.
Erzählen Sie!
Im Bereich Gesundheitsprävention sind mitbestimmte Unternehmen deutlich besser. Gute Arbeit ist auch da, wo wir Arbeitszeitmodelle haben, die weit über betriebswirtschaftliche Verwertungsinteressen hinausgehen und die Wünsche der Beschäftigten nach Zeitsouveränität in den Vordergrund stellen. Das wird vielfach als selbstverständlich wahrgenommen. Doch es braucht engagierte Betriebsräte, die die täglichen Mühen der Ebene auf sich nehmen und die Instrumente nutzen, die die Mitbestimmung ihnen an die Hand gibt. Gute Arbeit fällt nicht vom Himmel. Das zeigt uns der Blick in die Arbeitswelt der Discounter oder der Fleischindustrie. Es sind die rund 180 000 Betriebsräte und über 200 000 Personalräte, die den Unterschied machen. Das sage ich auch all jenen, die glauben, dass Vertrauensarbeitszeiten in der digitalisierten neuen Arbeitswelt auch ohne Mitbestimmung schöne Freiräume öffnen – das ist ein Holzweg ohne Leitplanken.
Mit Betriebsräten als zentralen Akteuren wird diese Erzählung mühelos anschaulich und konkret. Viel schwieriger ist es für Außenstehende, sich ein Bild zu machen, was Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten bewegen.
Das ist ein Trugschluss. Wer beide Ebenen der Mitbestimmung voneinander trennt, unterschätzt völlig, wie die Kommunikation über strategische Unternehmensentscheidungen, über Investitionen beispielsweise, im Wechselspiel zwischen Betriebs- und Aufsichtsräten und ihren Ausschüssen funktioniert. Oft sitzen die Betriebsräte ja selbst im Aufsichtsrat. Natürlich sind die skeptisch, wenn an außereuropäischen Standorten mehr investiert werden soll. Diese Investitionen sind oft aber nicht nur kostengetrieben, da geht es auch um Marktzugang in anderen Weltregionen. Oder Outsourcing. Das ist immer ein Spannungsverhältnis für die Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat. Aber deshalb sind sie so wichtig, damit es zu ausgewogenen Entscheidungen kommt. Denn diese Entscheidungen haben erhebliche Auswirkungen darauf, wie erfolgreich die betriebliche Mitbestimmung agieren kann.
Ausgerechnet im Jubiläumsjahr erlebt Volkswagen, der Leuchtturm der Mitbestimmung, eine tiefe Krise. Dieselgate macht den Konzern derzeit eher ungeeignet zum Werbeträger.
Was die Mitbestimmungsgegner und besonders die angelsächsischen Medien versuchen, ist offensichtlich, jetzt Kapital aus der Situation bei Volkswagen zu schlagen. Der Subtext: Dieselgate ist nur wegen der Mitbestimmung passiert. Das ist eine zweckgetriebene Argumentation, um die Mitbestimmung zu diskreditieren.
Die VW-Kultur gilt als autoritär und angstbesetzt. Sogar der Betriebsratsvorsitzende geißelte unlängst patriarchale Strukturen. Wie kommt es, dass die starke Mitbestimmung diese Strukturen nicht aufbrechen konnte?
Bei Volkswagen wird sehr viel getan, um die Fehler aufzuarbeiten. Es gibt einen Klärungsprozess. Aber das gehört wohl kaum auf den Marktplatz.
Was hinter verschlossenen Türen passiert, macht halt neugierig. Diese Neugier bedient die Presse.
Was wir dort sehen, ist in keiner Weise repräsentativ für die mitbestimmten Unternehmen. Es ist mitunter schwierig, die Themen und Argumente unserer Kampagne auf die Straße zu bringen – etwa mit neuen Formaten wie der Veranstaltungsreihe „Böckler vor Ort“. Das ärgert mich.
Reden wir über die Zukunft der Unternehmensmitbestimmung. Die großen deutschen Kapitalgesellschaften sind längst multinationale Konzerne. In ihren Aufsichtsräten sitzen Vertreter der deutschen Arbeitnehmer. Die Leute, die an ausländischen Standorten sitzen, bleiben ebenso draußen wie Umwelt- oder Verbraucherschützer. Wie könnte eine Weiterentwicklung aussehen?
Mitbestimmung kann nicht mehr allein national gedacht werden. Das Problem kennen wir seit den 70er Jahren, durch die Globalisierung hat es noch an Bedeutung gewonnen. Eine europäische Mitbestimmung wäre die Riesenchance. Das geht aber nur mit europäischem Recht. Und da stoßen wir an Grenzen – auch wenn wir jetzt versuchen, eine Revision der Richtlinie für die Europäische Aktiengesellschaft zu bewirken, um bei der Europäisierung der Mitbestimmung einen Schritt weiterzukommen.
Über 30 Jahre hat es gedauert, ehe ein Kompromiss für die Mitbestimmung in der SE, der Europäischen Aktiengesellschaft, ausgehandelt war.
In der Tat haben wir zwei Jahrzehnte über die Sinnhaftigkeit der Mitbestimmung im Europäischen Gewerkschaftsbund EGB debattiert und gestritten. Heute machen die ausländischen Kollegen uns nicht mehr den Vorwurf der Kollaboration mit dem Kapital. Und deutsche Gewerkschafter preisen die Mitbestimmung schon lange nicht mehr als allein selig machenden Exportschlager an. Gemeinsam sind die Gewerkschaften im EGB der Meinung, dass wir mehr europäische Mitbestimmung brauchen.
Wie kann die Mitbestimmung über diese deutschen und europäischen Baustellen hinaus durch ihre Praxis Strahlkraft gewinnen?
Mit der Forderung nach neuen Schwellenwerten gelingt das nicht, das ist mir klar. Wir müssen zeigen, dass die Arbeitnehmervertreter weit über die Grenzen Deutschlands hinaus eine globale Verantwortung entlang von Lieferketten und Investitionen wahrnehmen, ebenso wie für die Verbreitung guter Arbeitsbedingungen und Mindeststandards, die für uns längst eine Selbstverständlichkeit sind. Das Projekt einer fairen Globalisierung ist etwas, das auch bei jungen Menschen viel Anklang findet. Das erlebe ich in Gesprächen immer wieder.
Zur Person
Es war ein Heimspiel für Reiner Hoffmann, als er Ende Mai, wenige Tage vor seinem 61. Geburtstag, zum Interview ins Hans-Böckler-Haus nach Düsseldorf kam. Fast vier Jahre lang stand hier in der ersten Etage der Schreibtisch des Landesbezirksleiters Nordrhein der IG BCE, ehe er im Februar 2014 nach Berlin zum DGB-Vorstand wechselte, dessen Vorsitz er im Mai 2014 übernahm. Noch viel weiter zurück reicht die Beziehung zur Stiftung: Mit einem Böckler-Stipendium studierte er Ende der 70er Jahre Wirtschaftswissenschaften an der Universität Wuppertal, 2014 übernahm er den Vorsitz im Vorstand.
Mit der Gründung von zwei Expertenkommissionen hat Reiner Hoffmann in der Hans-Böckler-Stiftung zu Beginn seiner Amtszeit Akzente gesetzt: In der Kommission „Arbeit der Zukunft“ werden die Herausforderungen der künftigen Arbeitswelt ausgelotet, die Expertengruppe „Workers‘ voice and Good Corporate Governance in Transnational Firms in Europe“ untersucht, was Mitbestimmungsstrukturen in Europa belastbar macht.