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Magazin Mitbestimmung

Arbeitsrecht: Im rechtsfreien Raum

Ausgabe 02/2016

Cloud-Worker kommen im deutschen Arbeitsrecht noch nicht vor. Gänzlich schutzlos sind sie trotzdem nicht. Doch um die Billiglöhner des Internets wirklich abzusichern, müsste der Gesetzgeber aktiv werden. Von Joachim F. Tornau

Deutschlands oberste Arbeitsrichterin gab sich entspannt. „Mir ist nicht bange, dass wir die digitalen Veränderungen gestalten können“, sagte Bundesarbeitsgerichtspräsidentin Ingrid Schmidt beim Deutschen BetriebsräteTag im vergangenen Oktober in Bonn. „Denn was unterscheidet die Clickworker vom Franchisenehmer, der das Ausmaß seiner Selbstausbeutung selbst bestimmen darf?“ Einiges, so könnte man antworten: Zwischen Solo-Selbstständigen, die auf Internetplattformen nach Aufträgen suchen, und dem Betreiber beispielsweise einer Fast-Food-Filiale mit eigenen Beschäftigten mangelt es nicht an Unterschieden. Doch was die BAG-Chefin wohl ausdrücken wollte: Die von der Rechtsprechung entwickelten Kriterien, wann jemand trotz seiner formalen Selbstständigkeit als „arbeitnehmerähnlich“ einzustufen ist, werden sich schon auch aufs Arbeiten im Netz anwenden lassen. Es ist alles gar nicht so neu, wie es scheint.

Arbeitnehmerähnlich oder selbstständig?

Kein Problem also? Spricht man mit Marta Böning, klingt das anders. Noch, sagt die Arbeitsrechtlerin beim DGB-Bundesvorstand, sei das Crowdworking „in gewisser Weise rechtliches Niemandsland“. In Deutschland gebe es bislang keine explizite Regelung, ob ein Internet-Tagelöhner als Arbeitnehmer, als arbeitnehmerähnlich oder – wovon die Plattformbetreiber in aller Regel ausgehen – als selbstständig zu gelten hat. „Das hängt davon ab, wie es im Einzelfall gelebt wird“, erklärt Böning. Und wenn sich die Beteiligten darüber erwartbar uneins sind, bleibt nur der Gang vor Gericht. Den aber wohl kaum ein Cloud-Worker, der weiter sein Geld über die betreffende Plattform verdienen möchte, antreten dürfte. 

Crowdsourcing kennt viele Varianten. Rechtlich unstrittig ist dabei nur, wenn es innerhalb eines Unternehmens genutzt wird. Wenn sich etwa die Beschäftigten einer Softwareschmiede Programmieraufgaben über eine interne Plattform besorgen können. Dass sie dann weiterhin Arbeitnehmer sind, steht außer Frage. Für Thomas Klebe, Leiter des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeitsrecht, gibt es aber auch genug Gründe, an der vermeintlichen Selbstständigkeit vieler externer Crowdworker zu zweifeln. 

Einige Plattformen würden sehr präzise vorschreiben, wie eine Arbeit zu erledigen sei, sagt der Rechtsanwalt. Mitunter werde die Leistung kontrolliert, indem sich Betreiber auf den Bildschirm des Cloud-Workers schalten. Und wer dauerhaft und zuverlässig für eine Plattform arbeite, könne in einen Pool für besser bezahlte Aufträge aufsteigen – und erleide einen „Karriereknick“, wenn er zu oft Nein sage. „Das kennt man alles aus herkömmlichen Arbeitsverhältnissen“, meint Klebe. Mithin: Der Cloud-Worker müsse in solchen Fällen als Arbeitnehmer gelten – entweder der Plattform selbst oder des dahinterstehenden Auftraggebers. Und ihm stünden alle damit verbundenen Rechte zu, vom Kündigungsschutz über die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall bis zur Vertretung durch den Betriebsrat.

Sind die Arbeitsbedingungen eines Clickworkers nicht ganz so strikt, bleibt als weitere Möglichkeit die Arbeitnehmerähnlichkeit, auf die BAG-Präsidentin Schmidt anspielte: Selbstständige, die von einem Auftraggeber wirtschaftlich abhängig und in ihrer Schutzbedürftigkeit auch sonst mit einem Arbeitnehmer vergleichbar sind, haben unter anderem Anspruch auf bezahlten Urlaub. Und es können für sie Tarifverträge abgeschlossen werden. Derzeit muss ein Selbstständiger dafür mehr als die Hälfte seines Erwerbseinkommens von einem Unternehmen beziehen. „Diese Grenze sollte man herunterschrauben“, findet Klebe. 

Für weiteren Schutz könnte sorgen, wenn ein Gesetz aus der vordigitalen Ära auf die neuen digitalen Arbeiter angewendet würde: Im 1951 erlassenen Heimarbeitsgesetz sind Kündigungsfristen, Zulagen, beispielsweise bei Krankheit, und Mindestentgelte geregelt. Heimarbeiter, die hauptsächlich für einen Betrieb tätig sind, unterliegen zudem der betrieblichen Mitbestimmung. Allerdings: Diese Regelungen gelten bislang ausdrücklich nicht für Arbeitnehmerähnliche. „Das“, sagt Klebe, „ist nicht zu verstehen.“

Sittenwidrige Stundensätze

Vielen der Menschen, die sich Mikroaufgaben für kleines Geld auf verschiedenen Plattformen zusammensuchen, dürfte all das freilich nur sehr begrenzt weiterhelfen. Belastbare Daten zu Anzahl, Struktur und Arbeitsbedingungen von Cloud-Arbeitern in Deutschland liegen bisher nicht vor. Doch sicher ist: Als Arbeitnehmer oder arbeitnehmerähnlich wird man nur einen Teil von ihnen einstufen können. Der Rest – vielleicht sogar das Gros – bleibt selbstständig. Sie genießen keinen arbeitsrechtlichen Schutz, sind nicht sozialversichert, haben keinen Betriebsrat. Dennoch betont Arbeitsrechtler Wolfgang Däubler: „Die möglicherweise bei manchen Arbeitgebern vorhandene Vorstellung, Crowdworking könne sich praktisch im rechtsfreien Raum vollziehen, trifft so nicht zu.“ 

So könnten, zumindest bei deutschen Plattformbetreibern, die allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) gerichtlich überprüft werden. Und da fänden sich, so der emeritierte Rechtsprofessor, nicht selten angreifbare Regelungen, die die Crowdworker benachteiligen. Zum Beispiel eine Bezahlung wie bei einem Preisausschreiben. Nur die beste Leistung wird vergütet, alle anderen Clickworker gehen leer aus. „Das Entgelt darf auch bei selbstständiger Arbeit – zugespitzt formuliert – nicht Gegenstand einer Lotterie sein“, sagt Däubler. Und befindet: Sittenwidrig!

Das Argument der Sittenwidrigkeit führt der Jurist auch gegen Stundensätze von zwei bis drei Euro ins Feld. Er verweist auf die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, wonach eine Unterschreitung des Tariflohns um mehr als ein Drittel gegen die guten Sitten verstößt. „Dasselbe muss nunmehr auch für den gesetzlichen Mindestlohn gelten“, meint Däubler. „Einen Selbstständigen zu solchen Bedingungen zu beschäftigen lässt sich nicht mit grundlegenden Wertentscheidungen unserer Rechtsordnung vereinbaren.“

DGB fordert Erwerbstätigenversicherung

Reichen die bestehenden Gesetze noch aus, um dem Phänomen des Crowdsourcing gerecht zu werden? Nein, sagt der DGB. Er fordert ein gesetzlich festgelegtes Mindest­honorar für Solo-Selbstständige. „Der Gedanke ist nicht neu“, sagt Gewerkschaftsjuristin Böning. „Auch Rechtsanwälte, Architekten oder Taxifahrer dürfen nicht unter einem bestimmten Preis tätig sein.“ Außerdem verlangen die Gewerkschaften, dass Plattformen, die in Deutschland tätig sein wollen, bestimmten rechtlichen Anforderungen genügen müssen – etwa dass die AGB, unabhängig vom Unternehmenssitz, dem deutschen Recht entsprechen. Und nicht zuletzt müsste den Risiken von Krankheit und Altersarmut von Cloud-Workern vorgebeugt werden, indem man sie in die gesetzliche Sozialversicherung einbeziehe. 

„Wir plädieren für eine Erwerbstätigenversicherung, die auch für Crowdworker gelten würde“, sagt Böning. Denkbar sei auch eine Lösung nach dem Vorbild der Künstlersozialkasse, die selbstständige Kunst- und Medienschaffende absichert. Deren Mitglieder zahlen nur den Arbeitnehmer­anteil zur Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung, der Arbeitgeberanteil wird aus Zahlungen der Auftraggeber und staatlichen Zuschüssen finanziert.

Als Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) vor einem Jahr ihr Grünbuch „Arbeiten 4.0“ vorstellte und den Dialogprozess zur Zukunft der Arbeit startete, hatte sie auch die Altersvorsorge für „digitale Tagelöhner“ auf die Agenda gehoben. „Ob wir ein neues berufsständisches Versorgungswerk für Crowdworker schaffen werden oder ob wir die gute, alte Rentenversicherung für Solo-Selbstständige öffnen, das ist noch nicht entschieden“, sagte Nahles damals. Mittlerweile ist davon keine Rede mehr. Man könne einen „erhöhten Handlungsbedarf“ nicht erkennen, teilt ein Sprecher mit. Wie viele hauptberufliche Clickworker es in Deutschland gibt, weiß zwar auch das Ministerium nicht. Aber noch, da ist man sich sicher, handele es sich nur um ein „Randphänomen“.

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