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Magazin Mitbestimmung

Montanmitbestimmung: Kollektiver Kraftakt

Ausgabe 09/2015

Der deutsche Steinkohlebergbau ist bald Geschichte: Arbeitsdirektoren, Betriebsräte und Manager der RAG Deutsche Steinkohle AG stemmen gemeinsam die Aufgabe: sozial das Personal zurückzufahren und dabei den reibungslosen Betrieb zu gewährleisten. Doch nicht alles geht reibungslos. Von Carmen Molitor

Das Ende naht. Mal wieder. Bergmann Gerd Melzer wird im Dezember die Schließung der Zeche Auguste Victoria (AV) in Marl miterleben; er wird dabei sein, wenn dort die letzte Steinkohle zutage gefördert wird. Manche seiner Kollegen müssen schlucken, wenn sie sich diesen Moment vorstellen. Melzer findet die Schließung schade, aber seine Wehmut hält sich in Grenzen: „Das ist meine sechste Zeche, ich bin schon fünf Mal verlegt worden“, erklärt der 53-jährige Lampenwart. Schließung nach Schließung machte er mit, zuletzt 2008 im Bergwerk Walsum in Duisburg. Seitdem pendelt der Dortmunder in das 50 Kilometer entfernte Marl. Er will so lange bei der RAG bleiben, bis er Anrecht auf das maximal fünfjährige Anpassungsgeld hat, das ihn gut abgefedert in den Vorruhestand bringt. „Jetzt werde ich hier noch schließen und dann zu Prosper-Haniel wechseln“, sagt der Bergmann. 2018 beenden Prosper-Haniel in Bottrop und die RAG Anthrazit in Ibbenbüren die Epoche der deutschen Steinkohleförderung. „Dann habe ich 33 Berufsjahre voll, das sollte genügen“, findet Melzer. Der Lampenwart freut sich auf die Rente, will dann in Thailand, dem Heimatland seiner Frau, überwintern.

Abwehrschlacht gegen Massenentlassungen. Der deutsche Steinkohlebergbau hat viel Erfahrung mit Instrumenten zum sozialverträglichen Abbau von Arbeitsplätzen, darunter auch das Zechenhopping bis zur Rente. Sein Niedergang begann nicht erst 2007, als Bund und Länder beschlossen, ihre Subventionen für die Zechen zu streichen. Er dauert schon Jahrzehnte. „Allein von 1996 bis Ende 2014 reduzierte sich die Zahl der Beschäftigten im Bergbau um 70 000 auf knapp 10 000“, erinnert Ralf Bartels, Leiter der Abteilung Energiewende und Nachhaltigkeit bei der IG BCE. „40 880 dieser Beschäftigten gingen in den Vorruhestand, über 26 560 fanden über Qualifikationen, Umschulungen und ähnliche Instrumente eine andere Beschäftigung, 2210 wechselten innerhalb der RAG in andere Bereiche.“

Ralf Bartels war dabei, als die Leitplanken für den Weg zum Ende der Subventionierung der Steinkohle gezogen wurden, das CDU und FDP vorantrieben. Ab 2006 nahm er als damaliger Ressortleiter Bergbau und Energiepolitik für die IG BCE an den Verhandlungen über das Steinkohlefinanzierungsgesetz mit dem Bund, der RAG und den Kohle-Ländern NRW und Saarland teil. Die Gewerkschaft und die RAG hielten den Ausstiegsplan für falsch, akzeptierten aber den Primat der Politik. Die IG BCE konzentrierte sich darauf, zu retten, was zu retten war. „Das war hart. Es standen sich verschiedene Modelle gegenüber: bis 2018 auszusteigen, was der frühestmögliche sozialverträgliche Zeitpunkt war. Oder schneller auszusteigen, was Massenentlassungen bedeutet hätte“, berichtet Bartels und ist stolz auf das Ergebnis: „Wir haben eine sozialverträgliche Ausgestaltung dieses Prozesses durchgesetzt.“ Den Löwenanteil der veranschlagten Kosten für den Ausstieg tragen Bund und Länder. Allein für die Anpassungsgelder zahlte die öffentliche Hand zwischen 2007 und 2014 rund 1,36 Milliarden Euro, bis 2018 werden weitere 660 Millionen hinzukommen. Für die Ewigkeitskosten wie Dauerbergschäden oder Abpumpen des Grundwassers kommt die RAG-Stiftung auf.

Auch eine Revisionsklausel, dass der Bundestag das Steinkohlefinanzierungsgesetz 2012 überprüfen sollte, erreichten Gewerkschaft und RAG. Sie wurde 2010 hinfällig, als die EU erwog, die Kohlesubventionen weit vor 2018 auslaufen zu lassen. „Es drohten wieder Massenentlassungen“, erklärt Ralf Bartels. Am Ende beschloss die EU, europaweit 2018 jede Subventionierung der Steinkohleförderung zu beenden. Das deutsche Ausstiegsszenario blieb erhalten, und ein Tarifvertrag („TV Beendigung deutscher Steinkohlebergbau“) zurrte als einheitliches Gesamtkonzept 2012 die Bedingungen zur Gestaltung sozialverträglicher Personalmaßnahmen in der montanmitbestimmten RAG Deutsche Steinkohle AG fest.

Als die Verhandlungen um das Steinkohlefinanzierungsgesetz abgeschlossen waren, gab es noch acht produzierende Zechen. Mit die längste Gnadenfrist erhielt die RAG Anthrazit Ibbenbüren GmbH. Jetzt beginnt auch hier der Countdown: Die Anthrazit produziert 2015 erstmals weniger als zwei Millionen Tonnen Steinkohle. „Sinkflug“ nennt Ibbenbürens Arbeitsdirektor Jörg Buhren-Ortmann das bei einem Gespräch mit ihm und Betriebsrat Uwe Wobben in seinem Büro im in die Jahre gekommenen Haus der Verwaltung gegenüber der Zeche: „Wir gehen jetzt runter auf 1,6 Millionen, dann auf 1,2 Millionen, auf eine Million, und 2018 produzieren wir noch 800 000 Tonnen“, erzählt er. Die Streckenvortriebe werden weniger, die Schichten auch, die Instandhaltung hat länger Zeit für ihre Arbeiten. „Bisher war die Schließung sehr theoretisch, jetzt ist sie ein für alle spürbarer Prozess“, sagt Buhren-Ortmann.

Die Beschäftigtenzahl sinkt in der Zeche schon länger. Als der Arbeitsdirektor 2011 seinen Posten antrat, hatte der Standort 2800 Mitarbeiter, seither verringert sich die Zahl jährlich um 250 bis 300. Buhren-Ortmann arbeitet mit dem Betriebsrat eng in der Gretchenfrage zusammen, die alle schließenden Zechen lösen müssen: Wie kann man mit immer weniger Beschäftigten den Betrieb gefahr- und reibungslos aufrechterhalten? Wie sichert man Qualifikationen, die durch die Abgänge verloren gehen? Eine vorausschauende Planung, bei der Personalabteilung und Mitbestimmung Hand in Hand arbeiten, sei dabei elementar, erklärt der Arbeitsdirektor. „Was wir hier in den letzten Jahren gemeinsam geleistet haben, wie wir Mitarbeiter auf geänderte Aufgaben qualifiziert haben, das ist schon eine Herausforderung gewesen“, bilanziert er.

Als erste gemeinsame Herkulesaufgabe des Um- und Abbaus meisterten Arbeitsdirektor, Personalabteilung und Betriebsrat zusammen die Aufnahme von 756 Kumpeln von der Saar, von denen das Gros 2011 und 2012 kam. In Ibbenbüren brauchte man für diese Kumpel freie Stellen, ältere Beschäftigte mussten ihren Platz räumen. „Die meisten Kollegen haben mitgemacht und erkannt, dass es nur sozialverträglich gehen kann, wenn die, die Anspruch auf Anpassungsgeld haben, den Platz freigeben“, sagt Buhren-Ortmann. Das ist bis heute ein zentraler Hebel für den Schrumpfungsprozess geblieben: Wer das Alter erreicht hat, um mit Anpassungsgeld in die Frühverrentung zu gehen, geht. Bergwerksbeschäftigte, die unter Tage arbeiten, müssen dafür mindestens 50 Jahre alt sein. Die, die über Tage arbeiten, mindestens 57 Jahre. Dann erhalten sie aus Bundesmitteln ein Überbrückungsgeld für längstens fünf Jahre, bis sie einen Anspruch auf Leistungen der knappschaftlichen Rentenversicherung haben.

Jedes Jahr bringen sich rund 70 Prozent der Belegschaft in einem von 6600 „Lean-Workshops“ als Experten der Arbeit vor Ort in die nötige Optimierung der Arbeitsprozesse. Um das spezielle Knowhow eines ausscheidenden Mitarbeiters an den Nachfolger zu vermitteln, greift man auch auf die „Wissensstafette“ zurück, ein Instrument, das der Gesamtbetriebsrat mit der RAG abgestimmt hat. „Die Personalabteilung erstellt ein Soll-Profil für die Stelle und gleicht es mit dem Wissen und den Defiziten des neuen Mitarbeiters ab“, erklärt Buhren-Ortmann.

Eine andere mitbestimmte Tradition ist die „Info-Kaskade“, bei der Betriebsrat, Geschäftsführung und der IG-BCE-Bezirksleiter unterschiedliche Mitarbeitergruppen nacheinander systematisch über Themen aufklären, über die alle Bescheid wissen sollten. Das kann von Auswirkungen des Auslaufprozesses bis hin zur Information über Entwicklungen in der Kommunalpolitik, die das Bergwerk betreffen, reichen. Der Betriebsrat befasst sich insbesondere im Ausschuss „Betriebliche Angelegenheiten“ mit den anstehenden Veränderungen. „Wir holen manchmal einen Fachvorgesetzten dazu und bitten ihn, uns eine neue Situation zu erklären“, berichtet Uwe Wobben, der stellvertretende Betriebsratsvorsitzende.

In viele Planungsgruppen rund um die Schließung und die nötigen „Ewigkeitsarbeiten“ hat die Geschäftsführung den Betriebsrat fest eingebunden. „Die Montanmitbestimmung wird hier gelebt“, betont Wobben. Jörg Buhren-Ortmann nickt: „Der Betriebsrat kann hier nicht nur mitsprechen, sondern auch mitgestalten und mitverantworten“, sagt er. „Wenn beide Seiten einen Beschluss fassen und tragen, wird er von allen eins zu eins umgesetzt – und wenn es etwas zu meckern gibt, geht die Tür zu. Nichts dringt nach außen.“

UNRUHE DURCH GERICHTSVERFAHREN

Nicht alle RAG-Beschäftigten sind mit allem zufrieden, was Gewerkschaft, Betriebsrat und Unternehmen zum Personalabbau vereinbart haben. Rund 120 Mitarbeiter aus mehreren Zechen klagten ab Oktober 2012 gegen eine Versetzung in ein Mitarbeiter-Entwicklungs-Center (MEC), die der Tarifvertrag für Beschäftigte, die nicht anpassungsgeldberechtigt sind, forderte. „Das MEC war eine eigene Betriebseinheit mit dem Ziel, Mitarbeiter schnellstmöglich in andere Jobs zu vermitteln“, erklärt ihr Anwalt Daniel Kuhlmann. „Die Beschäftigten sollten sich auch zu schlechteren oder ungewissen Bedingungen in andere Arbeitsverhältnisse vermitteln lassen. Da haben einige gesagt: Das sehe ich nicht ein! Nur weil mein Arbeitskollege zwei Monate älter ist als ich, darf der bis 2018 bleiben und wird dann noch mit Anpassungsgeld versorgt. Und ich soll jetzt schon rausgedrängt werden, obwohl mein Arbeitsplatz erst in fünf Jahren wegfällt!“

Die unzufriedenen Kumpel bekamen in zweiter Instanz von den Landesarbeitsgerichten Düsseldorf und Hamm Recht. Die RAG ging in Revision, zog diese aber zurück, als das Bundesarbeitsgericht in diesem Jahr einen Hinweisbeschluss erließ, dass es der Rechtsauffassung der Vorinstanz folgt. Die Richter sahen in den Vereinbarungen rund um das MEC einen Eingriff in den Kündigungsschutz. Ein Arbeitnehmer könne nicht dazu verpflichtet werden, an seiner eigenen Kündigung mitzuwirken. „Deshalb ist der ganze Versetzungskomplex im Tarifvertrag unwirksam“, erklärt Kuhlmann. Wer geklagt hatte, konnte seinen Job zu den alten Konditionen wieder antreten. Den „TV Beendigung“ hoben die Vertragspartner kurz nach dem Rechtsstreit vorzeitig auf.

„Da wird von oben gesagt: So wird’s gemacht – und Punkt!“, kritisiert der Fachanwalt für Arbeitsrecht, der weitere Verfahren gegen die RAG vorbereitet, die fehlende Transparenz. „Wenn eine bessere Kommunikation stattfinden würde, könnte man sich bei der RAG viele Probleme sparen.“

„DAS BESTE, WAS ICH JE GESEHEN HABE“

Die enge Verflechtung, die Anwalt Kuhlmann kritisiert, sehen die Akteure selbst als den Faktor, der den sozialverträglichen Abbau erst möglich machte. „Diejenigen, die dort geklagt haben, haben der Sache einen Bärendienst erwiesen“, betont Friedhelm Hundertmark, Bezirksleiter der IG BCE Ibbenbüren und Mitglied im Aufsichtsrat der RAG Anthrazit. „Sie gehen von der Fiktion aus, dass es andere Instrumente geben könnte, die besser sind als das, was wir vereinbart haben. Das hat am Ende möglicherweise den beratenden Anwälten geholfen, aber den Beschäftigten nicht.“ Trotz der Gerichtsurteile, die Hundertmark nicht kommentieren will, hält er den TV Beendigung „für das Beste, was ich sowohl in Deutschland als auch im befreundeten Ausland kenne, wenn es darum geht, Sozialverträglichkeit auf den Weg zu bringen. Mit diesem Vertrag fiel niemand ins Bergfreie, keiner musste zum Arbeitsamt gehen.“ Vertrag und MEC sind nun Makulatur, aber man werde weiter „niemanden im Regen stehen lassen, der Hilfe braucht“.

Auch Norbert Maus, Vorsitzender von RAG-Gesamtbetriebsrat und Betriebsrat von Auguste Victoria in Marl, ist nach wie vor stolz auf einen „aus meiner Sicht einmaligen Sozialplan“. Das MEC habe große Erfolge verzeichnet und Mitarbeiter unter anderem in nahe Energieunternehmen, ins Handwerk oder andere lokale Betriebe vermittelt; man habe den Jobsuchenden nötige Weiterbildungen und Qualifizierungen angeboten: „Von insgesamt 3000 nicht ruhestandsberechtigten Mitarbeitern im Jahr 2007 haben wir derzeit nur noch 700, der Rest ist vermittelt worden“, bilanziert Maus am Tisch seines Büros in Marl. „So etwas fällt nicht vom Himmel, das muss man sich gemeinsam erarbeiten. Sozialpartnerschaft wird hier gelebt! Wir haben ganz viel richtig gemacht. Vielleicht nicht alles, aber ganz viel.“

In Marl ist im Dezember Schicht im Schacht. Bis dahin bleibt viel zu tun, beispielsweise 570 Mitarbeiter zum Bergwerk Prosper-Haniel und in den Servicebereich zu verlegen. „Wir sind grade im Findungsprozess, wie wir das gestalten und wann der richtige Zeitpunkt ist.“ Ein gewisser Teil der Mannschaft bleibt weiter an Bord, um Aufräum- und Rückbauarbeiten zu leisten. Man wolle die Zeche quasi „besenrein“ verlassen, sagt der GBR-Vorsitzende. Endzeitstimmung herrsche nicht. „Wir werden uns mit Stolz, Würde und Anstand verabschieden.“

Für Abschiedsschmerz bleibt den Kumpeln noch keine Zeit. „Ich verdränge die Schließung bis zum letzten Augenblick“, gibt Erdogan Celikci in Marl freimütig zu. „Mein Job ist die Arbeitssicherheit unter Tage, da habe ich bis zum Schluss reichlich zu tun.“ Celikci ist seit seinem 16. Lebensjahr auf Zeche, sein Vater war Bergmann, sein Sohn ist es auch. Bei der Schließung seiner Heimatzeche, dem Bergwerk Ost in Hamm, hatte er Gänsehaut. Erdogan Celikci wechselt noch nach Bottrop. „Dann sehe ich meinem Ruhestand sehr positiv entgegen. Der war immer mein Licht im Tunnel.“

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