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Magazin Mitbestimmung

Forschung: Alle wollen Fairness

Ausgabe 06/2015

Eine Soziologenkonferenz erteilt der These vom „Ende der Solidarität“ eine Absage. Beschäftigte haben ausgeprägte Vorstellungen, was gute Arbeit ist und sind durchaus mobilisierbar. Von Johannes Schulten

Bewegt sich etwas bei den Arbeitnehmern? „Ja, und zwar eine Menge.“ Kürzer und mit mehr Gewissheit als die Industriesoziologin Ingrid Artus aus Erlangen kann man eine Gegenwartsdiagnose kaum formulieren. Artus hat mit einem Team von Wissenschaftlern Betriebsratsgründungen in 54 Unternehmen aus elf Branchen in Ost und West untersucht. Ihr Ergebnis: Die konkreten Anlässe, warum Beschäftigte eine Interessenvertretung wählen, sind zwar unterschiedlich, doch der Großteil der Beschäftigten wird aktiv, weil sie ein „Gerechtigkeitsdefizit“ sehen. „Die Beschäftigten wünschen sich eine Kultur des fairen Gebens und Nehmens“, sagt Artus. Wird diese vom Arbeitgeber zu stark gestört, neigen sie zu Widerstand.

Kultur des fairen Geben und Nehmen? Solidarisches Verhalten? Das hört sich nach soziologischen Zeitdiagnosen aus den 1970er Jahren an, aus Zeiten also, in denen es weder Leiharbeit, Werkverträge noch Blackberrys gab und Angestellte ihre Arbeit zwischen neun Uhr morgens und fünf Uhr nachmittags erledigten. Wer heute über das Verhältnis von Arbeitnehmern untereinander und zu ihren Chefs liest, findet dagegen vor allem Einschätzungen, in denen vom „Ich-Unternehmer“ oder vom „individuellen Nutzenmaximierer“ die Rede ist – von Beschäftigten, die sich vor allem einem verpflichtet fühlen: ihrer Karriere. Und das nicht nur in der ganze Bibliotheken füllenden Managementliteratur, sondern auch bei kritischen Geistern: „Der Neoliberalismus formt aus dem unterdrückten Arbeiter einen freien Unternehmer, einen Unternehmer seiner selbst. Jeder ist heute ein selbstausbeutender Arbeiter seines eigenen Unternehmers“, schrieb kürzlich der Berliner Philosoph Byung-Chul Han prominent in der Süddeutschen Zeitung. Die Folge: „Jeder ist Herr und Knecht in einer Person.“

Ist die Solidarität und damit auch die Existenzgrundlage für Gewerkschaften am Ende? Mitnichten, jedenfalls nicht, wenn man den Forschungsergebnissen Glauben schenkt, die auf der Tagung „Was bewegt die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer? Arbeitsbewusstsein und Gesellschaftsbild revisited“ präsentiert wurden. Diese wandten sich durchgehend implizit oder explizit gegen derartige Individualisierungsszenarien – und zwar unabhängig davon, ob es sich um klassische Industriearbeiter, prekär Beschäftigte, freischaffende Künstler oder hochqualifizierte IT-Spezialisten handelt. Veranstaltet wurde die Konferenz am 23. und 24. März vom Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) und dem Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung München (ISF), unterstützt von der Hans-Böckler-Stiftung.

KEINE EGOISTEN WEIT UND BREIT

„Wachsende Ungleichheit und Unsicherheit in der Erwerbsarbeit führen nicht zwangsläufig zu Ab- und Ausgrenzung“, sagt Harald Wolf, Sofi-Wissenschaftler und Mitautor der breit angelegten und ebenfalls von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Forschungsstudie „Brüchige Legitimationen – Neue Handlungsorientierungen“. Auf Arbeitnehmer jedenfalls, die ausschließlich als „Ich-Unternehmer“ oder „homo economicus“ handeln, sind Wolf und seine Kollegen bei ihren Untersuchungen – immerhin 210 Beschäftigteninterviews und 18 Gruppendiskussionen in 28 Betrieben – nicht gestoßen. Vielmehr haben die Beschäftigten sehr ausgeprägte Vorstellungen davon, was „gute Arbeit“ ist. Wolf spricht hier von einer „moralischen Ökonomie“. Damit meint er normative Ansprüche und Gerechtigkeitsvorstellungen, die als Handlungsgrundlage dienen.

Tatsächlich dürfte es vielen Beschäftigten an krisenhaften Erfahrungen in den letzten Jahren nicht gefehlt haben. Doch folgt daraus auch eine allgemeine politische Kritik, die über den einzelnen betrieblichen Konflikt hinausgeht, die womöglich gar auf grundsätzliche gesellschaftliche Fragen abzielt? Forscherin Artus ist skeptisch: „Konflikte haben kaum größere gesellschaftspolitische Implikationen. Es geht um den betrieblichen Nahbereich und um ein ‚faires Miteinander‘“. Für Wolf kommt die soziologische Bewußtseinsforschung bei dieser Frage sogar an ihre Grenzen: „Was die Arbeitnehmer bewegt, können wir sagen, aber nicht, ob daraus gesellschaftspolitische Bewegung entsteht.“

Etwas mutiger die These des Osnabrücker Soziologen Hajo Holst: Arbeitnehmer stellen eine Beziehung zwischen ihrer Arbeitssituation und der Gesellschaft her. Damit sind sie auch immer „pragmatische Gesellschaftstheoretiker“. Bei etwa der Hälfte der von ihm befragten Beschäftigten eines westdeutschen Automobilherstellers überwiegen dabei sogar „gesellschaftskritische Einstellungen“. 70 Prozent der Beschäftigen stimmen etwa eher oder ganz der Aussage zu, dass die „Interessen der Arbeitnehmer immer weniger berücksichtigt werden“. Allerdings haben diese kritischen Einstellungen oft auch ein „exkludierendes Moment“. Kollegen, die im Betrieb nicht mitziehen, werden genauso kritisiert wie Leistungsbezieher. Für Gewerkschaften macht das die Sache nicht leichter: „Die verschiedenen Grundposition beinhalten unterschiedliche Ansatzpunkte und Hindernisse für eine interessenpolitische Aktivierung.“ Aber war das nicht immer schon so?

STREIKBEREIT GEGEN MANAGER-UNVERNUNFT

Trotzdem: Die Tagung brachte interessante Einsichten für aktive Gewerkschafter: Per se nicht mobilisierbare Beschäftigtengruppen gibt es nicht. Sogar hochqualifizierte IT-Angestellte, die lange Zeit als unorganisierbar galten, können streiken, wie die ISF-Soziologen Wolfgang Menz und Sarah Nies am Beispiel einer Standortschließung ausführten. Grund sei hier jedoch weniger die Verletzung von Gerechtigkeitsansprüchen, sondern das Gefühl, mit einer nicht rationalen Management­entscheidung konfrontiert zu sein. Aber auch in dieser Haltung, Managemententscheidungen als inkompetent und unvernünftig in Frage zu stellen, liege Potenzial für eine längerfristige Politisierung und gewerkschaftliche Organisierbarkeit.

Das Fazit: Beschäftigte wissen genau, was sie im Betrieb vermissen, wo die Konflikte sind und damit auch, was sie von der Gewerkschaft erwarten. Sprechen die Gewerkschaften diese Themen an, haben sie auch gute Chancen, die Leute zu mobilisieren. Was überhaupt nicht geht, ist dass Gewerkschaften den Beschäftigten von oben herab erzählen, was ihre Probleme sind.

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