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Magazin Mitbestimmung

Interview: "Bildungsteilzeit jetzt für alle"

Ausgabe 03/2015

Nach dem Tarifabschluss kommt die betriebliche Umsetzung. Betriebsräte könnten nun abwägen, wie in ihren Betrieben eine sinnvolle Mischung zwischen Alters- und Bildungsteilzeit aussieht, sagt Jörg Hofmann, Zweiter Vorsitzender der IG Metall. 

Jörg Hofmann, die IG Metall hat sich in dieser Tarifrunde erstmals wieder sehr starkgemacht für die Arbeitszeitpolitik. Wie bewerten Sie die Ergebnisse? 

Bei der Altersteilzeit haben die Arbeitgeber versucht, „Rache“ für die Rente mit 63 zu nehmen. Das ist ihnen allerdings kräftig misslungen. Die mehr als 870 000 Warnstreikenden haben gezeigt, dass sie die Altersteilzeit als ein sehr wichtiges Gut erachten. Die Arbeitgeber hätten gern die alte Regelung gekippt, nach der vier Prozent der Beschäftigten einen Anspruch haben. Das konnten wir verhindern. Genauso haben wir es geschafft, für die unteren Lohngruppen deutlich höhere Aufstockungsbeträge zu vereinbaren. Damit ist die Altersteilzeit auch für Beschäftigte mit geringerem Einkommen möglich geworden.

Wer durch Schichtarbeit oder schwere körperliche Tätigkeit besonders belastet ist, hat mit 58 Jahren vorrangig Anspruch auf Altersteilzeit von bis zu fünf Jahren. Aber was ist mit den kaufmännischen Angestellten, bei denen in den letzten Jahren die psychischen Belastungen durch den Flexibilitätsdruck enorm angestiegen sind?

Die Arbeitgeber wollten ursprünglich nur noch den Kranken und körperlich Belasteten Altersteilzeit gewähren. Ich sage, dass diese beiden Belastungsmerkmale nur unvollständig Belastungen im Arbeitsleben beschreiben. Umso wichtiger war es für uns, daneben einen allgemeinen Anspruch für jeden, also auch etwa für kaufmännische Angestellte, durchzusetzen. Jeder hat im Rahmen der Quote nun Anspruch auf eine mindestens vierjährige Altersteilzeit.

Das zweite große Thema war die Bildungsteilzeit. Da haben sich die Arbeitgeber weniger bewegt. Die Einigung sieht vor, nicht ausgeschöpfte Mittel des Altersteilzeittarifvertrags künftig für Weiterbildungsmaßnahmen zu nutzen. Bringt das messbare Verbesserungen in den Betrieben?

Zunächst haben wir mit der bundesweiten Übernahme des NRW-Tarifergebnisses erreicht, dass jede Kollegin und jeder Kollege einen durchsetzbaren Anspruch auf sieben Jahre Bildungsteilzeit hat – allerdings ohne Aufstockung des Entgelts. Dies kann als klassische Teilzeit oder geblockt erfolgen. Das bedeutet zum Beispiel zwei Jahre Vollzeit, dann zwei Jahre Freistellung. Dieser Anspruch gilt in der Regel nach fünf Jahren Betriebszugehörigkeit. Und was für unsere Jugend wichtig war: Für Azubis gilt er unmittelbar nach Abschluss der Ausbildung. Die Beschäftigten können Bildungsteilzeit nehmen, sie haben Anspruch auf ein verlässliches Teilzeiteinkommen und im Anschluss auf eine höherwertige Vollzeitstelle im Betrieb.

In Baden-Württemberg gab es diese Regelung bereits.

Ja, und jetzt gilt sie deutschlandweit. 

Bei der Bezuschussung der Bildungsteilzeit konnte die IG Metall sich nicht durchsetzen.

Das stimmt. Aus unserer Sicht sollten die Betriebsräte mitbestimmen, wie die im Finanzierungstarifvertrag vorgesehenen Mittel verteilt werden. Nun gilt: Durch freiwillige Betriebsvereinbarungen zur Altersteilzeit hat der Betriebsrat die Möglichkeit, die Vier-Prozent-Quote aufzuteilen – etwa ein Prozent für Bildungsteilzeit, zwei für besonders Belastete und ein Prozent für den allgemeinen Anspruch auf Altersteilzeit. Und wenn der Arbeitgeber den Altersteilzeitanspruch beschränken möchte, ist er verpflichtet, die Differenz zu den vier Prozent für eine materielle Aufstockung der Bildungsteilzeit zur Verfügung zu stellen. 

Auf Betriebsräte kommt einiges an Arbeit zu. Was rät ihnen die IG Metall?

Zu überlegen, was eine sinnvolle Mischung zwischen Alters- und Bildungsteilzeit sein kann. In einem Maschinenbaubetrieb mit einer jungen Belegschaft aus gut qualifizierten Facharbeitern wäre es im Moment vielleicht intelligenter, den Anspruch auf Bildungsteilzeit kurzfristig zulasten der Altersteilzeit zu erweitern, bevor Volumen verfällt. 

Warum ist die Bildungsteilzeit auf einmal so wichtig? 

Weil wir angesichts der Umbrüche in unserer Branche den Beschäftigten einen Anspruch auf berufliche Bildung eröffnen wollen jenseits des kurzfristigen Verwertungsinteresses des Arbeitgebers. Welche Erstausbildung jemand wählt, hängt in hohem Maße davon ab, aus welcher sozialen Schicht er oder sie kommt. Bei vielen Beschäftigten ist die Chance auf ein Studium häufig gleich null, weil fehlende Zeit und Geld dagegenstehen. Die Forderung nach Bildungsteilzeit ist für uns Teil der Idee, den Beschäftigten eine an ihren Bedürfnissen und Lebenslagen orientierte Arbeitszeit zu ermöglichen. Und das in einer kollektiv solidarischen Lösung, mit der man Arbeitszeit verkürzen kann und zugleich einen Lohnausgleich finanziert.

Es sei gelungen, die Verweigerungshaltung der Arbeitgeber bei den qualitativen Themen aufzulösen, sagt die IG Metall. Wie soll es weitergehen? 

Wir haben eine Gesprächsverpflichtung mit den Arbeitgebern vereinbart. Diese sieht vor, das Thema Arbeitszeit weiter zu verfolgen. Dabei haben wir das Konzept einer „an Lebensphasen orientierten Arbeitszeit“ als Verhandlungsthema formuliert – auf der Grundlage der Ergebnisse der Beschäftigtenbefragung. Wichtige Fragen sind: Wie kann Arbeitszeit besser an die unterschiedlichen Lebenslagen der Beschäftigten angepasst werden? Wie kann Flexibilität so gestaltet werden, dass sie keine Einbahnstraße für Arbeitgeberinteressen ist? Die Flexibilitätsansprüche unserer Kolleginnen und Kollegen müssen sich in den Tarifverträgen widerspiegeln.

Topthema Zeitpolitik

 Besprechungen zum Arbeitsbeginn gehören für höher qualifizierte Team- und Projektarbeiter zum Alltag. Auch für Erich Buhlinger, Hauptvertrauensmann der Angestellten bei der Daimler AG in Gaggenau, und seine Kollegen ist das so. Doch hier finden die morgendlichen Telefonkonferenzen häufig bereits auf dem Weg zur Arbeit statt – im Berufsverkehr. „Wir machen schon im Auto die erste Besprechung“, erzählt der 58-Jährige, der im Produktmanagement in Gaggenau und Stuttgart arbeitet. Ursprünglich seien diese Telefonkonferenzen nur als kurzer Austausch gedacht gewesen. „Inzwischen werden aber schon Aufgaben für den Arbeitstag verteilt.“

Stress hat Buhlinger ohnehin genug. „Vor allem aufgrund der zahlreichen Umstrukturierungen haben die psychischen Belastungen bei uns in den letzten Jahren extrem zugenommen.“ Das beginnt mit den neuen Aufgaben, die nach jeder Umstrukturierung dazukommen, und endet mit zehn bis 15 Telefonkonferenzen pro Woche. Die seien nötig, weil fast alle Verantwortlichen an verschiedenen Orten arbeiten. 

Buhlinger arbeitet in einem „dekonzentrierten Bereich“, das heißt, er hat zwei Büros, eines in Stuttgart, eines in Gaggenau. Zwar dürfen die Angestellten in der Regel nicht länger als zehn Stunden am Tag arbeiten, mit den Fahrtzeiten kommt Buhlinger aber auch schon mal auf 14. Keine Frage, er mag seine Arbeit. Doch klar ist auch: Der Job frisst auf, zumal mit Ende 50. Im vergangenen Jahr hatte er einen Infarkt. 

Buhlinger hat „mit Ach und Krach“ noch eine der wenigen Altersteilzeitregelungen bei Daimler durchbekommen. Andere haben weniger Glück. Im vergangenen Jahr gab es 120 Arbeitnehmer, die Altersteilzeit machen wollen, in diesem Jahr sind es 188, im nächsten Jahr dürften es 230 werden – aber es gibt nur 25 Plätze für Altersteilzeit. „Die Leute wollen gehen, weil sie einfach nicht mehr können“, sagt der Vertrauensmann der Angestellten.

Viel diskutiert über das Thema Arbeitszeit wurde auch bei den Beschäftigten im knapp 100 Kilometer entfernten Bosch-Stammwerk in Stuttgart-Feuerbach. Es wird über Fachkräftemangel geklagt, 250 offene Stellen gibt es im Werk, fast alle im Bereich Forschung und Entwicklung. „Warum auf Hochschulabsolventen warten?“, fragt Betriebsratsmitglied und Mechatroniker Armin Kaltenbach. „Wir haben ein Reservoir an gut ausgebildeten, motivierten Facharbeitern, die die Produkte und das Unternehmen kennen.“ Viele seiner Kollegen würden sich gerne weiterbilden, einen Ingenieur oder Techniker „nachschieben“, allein schon um auf den Strukturwandel am Standort zu reagieren. Die Zahl derjenigen, die in der Produktion arbeiten, hat sich in den letzten zehn bis 15 Jahren mehr als halbiert, die in Forschung und Entwicklung entsprechend gesteigert. Das Problem: Der Großteil der Facharbeiter, die meist Familie haben, kann sich eine dreijährige Qualifizierung etwa für ein Bachelorstudium in Maschinenbau oder Mechatronik nicht leisten, wenn sie nicht vom Arbeitgeber unterstützt werden.

Für Hilde Wagner, Ressortleiterin Tarifpolitik beim IG-Metall-Vorstand, bedeuten die Erfahrungen der beiden Kollegen von Daimler und Bosch vor allem eins: „In den Betrieben wird wieder über Arbeitszeit geredet. Und über verkürzte Arbeitszeiten.“ Dabei steht Hilde Wagner einer pauschalen Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden skeptisch gegenüber, weil die Arbeitszeitrealitäten so unterschiedlich sind, wie die große Beschäftigtenbefragung von 2012 ergab. So arbeiten in der Metallbranche viele in einer Bandbreite von (tariflich vereinbarten) 35 bis 40 Stunden. Und zwei Drittel der Beschäftigten arbeiten regelmäßig länger als die vereinbarte 35-Stunden-Woche. Dazu kommt: Viele Beschäftigte erwarten heute vom Arbeitgeber, dass dieser private Interessen berücksichtigt. Heiß diskutiert werden in der IG Metall temporäre, „anlassbezogene Arbeitszeitverkürzungen“, wodurch die Beschäftigten einen Anspruch erhalten, etwa für Kindererziehung, Pflege oder auch Weiterbildung, vorübergehend in Teilzeit zu gehen – mit Rückkehrrecht in Vollzeit.

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