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HBS Böckler Impuls

Europa: Der Zusammenhalt steht auf dem Spiel

Ausgabe 01/2015

In der EU bestehen bedenkliche Ungleichheiten in den Bereichen Bildung, Beschäftigung und Vermögen. Auch für die Demokratie ist das ein Problem.

Wer es gern vielfältig hat, sollte Europa zu schätzen wissen: Hier gibt es auf relativ engem Raum ausgeprägte sprachliche, kulinarische und städtebauliche Unterschiede. Weniger reizvoll erscheint, dass es auch erhebliche soziale Differenzen gibt – und zwar sowohl innerhalb der EU-Staaten als auch zwischen ihnen. Wie gravierend dieses Problem ist, haben Jutta Allmendinger, die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB), und die WZB-Forscherin Ellen von den Driesch in einer Studie zusammengefasst, in die auch die Ergebnisse eines von der Hans-Böckler-Stiftung unterstützten Projekts eingeflossen sind. Die Wissenschaftlerinnen weisen anhand von Daten der EU-Kommission und der OECD nach, dass die soziale Unwucht in Europa in vielerlei Hinsicht zugenommen hat. Eine Schlüsselrolle spielt dabei der ungleiche Zugang zu Bildung.

Defizite bei der Bildung: Je wichtiger Qualifikation in der modernen Arbeitswelt werde, umso fataler wirke sich fehlende Bildung aus, schreiben Allmendinger und von den Driesch. Der Anteil der 25- bis 34-Jährigen ohne Sekundarbildung – in Deutschland ohne Hauptschulabschluss – schwankt ihrer Analyse zufolge zwischen 41 Prozent in Malta und 6 Prozent in Polen, Tschechien und der Slowakei. Bei der Lesekompetenz erreichen laut der PISA-Studie EU-weit knapp 20 Prozent der 15-Jährigen lediglich die niedrigste Fähigkeitsstufe, das heißt, sie müssen als funktionale Analphabeten gelten. Am größten ist der Anteil mit deutlich mehr als 30 Prozent in Bulgarien, Rumänien und Zypern, am niedrigsten in Irland und Estland.

Den größten Einfluss sowohl auf die formale Qualifikation als auch auf die kognitiven Kompetenzen habe in fast allen EU-Staaten die soziale Herkunft, so die Forscherinnen. Vergleichsweise gering sei der Effekt in Estland und Skandinavien, besonders groß unter anderem in Deutschland und Frankreich. Die zum Teil weit verbreitete Bildungsarmut zu bekämpfen, halten die Autorinnen für „die größte soziale Herausforderung“ der EU. Dass es möglich ist, die Ungleichheit im Bildungsbereich zu reduzieren, ohne die Qualität insgesamt zu beeinträchtigen, zeigten Staaten wie Irland, Polen oder Estland. Dort gehe ein hohes Bildungsniveau mit vergleichsweise geringen Differenzen einher. Wichtig sei es, möglichst allen Kindern einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Frühe Selektion dagegen verschärfe die soziale Ungleichheit.

Ungleiche Beschäftigungschancen: Auch die europäischen Arbeitsmärkte zeichnen sich laut der WZB-Studie durch massive Gegensätze aus. Zu den sogenannten NEETs (Not in Education, Employment or Training), die sich weder in Ausbildung befinden noch einen Job haben, gehören insgesamt 15,9 Prozent der EU-Bürger im Alter von 15 bis 29 Jahren: 8 Prozent sind erwerbslos, 7,9 Prozent inaktiv. Der Anteil der Inaktiven reicht von 4 Prozent in Luxemburg, Schweden und den Niederlanden bis zu 17 Prozent in Bulgarien. Die Erwerbsquote habe in den meisten Ländern zwar seit 2002 zugenommen, die Unterschiede seien allerdings nicht kleiner geworden. Schweden liegt mit 80 Prozent vorn, Griechenland und Kroatien sind mit 55 Prozent die Schlusslichter. Das EU-Ziel einer Erwerbsquote von mindestens 50 Prozent bei den Älteren erreiche nur jedes zehnte Mitgliedsland.

Bildung spielt eine entscheidende Rolle, wenn es um Chancen auf dem Arbeitsmarkt geht. In allen Ländern gelte: Je höher der Abschluss, desto höher der Anteil der Erwerbstätigen. Die Erwerbsquote Geringqualifizierter ist der Auswertung zufolge im EU-Schnitt 25 Prozentpunkte niedriger als die der Menschen mit mittlerer Qualifikation. Deren Abstand zu den Hochschulabsolventen beträgt wiederum 18 Prozentpunkte. Nach wie vor ein bedeutsamer Faktor ist zudem das Geschlecht: Die Differenz zwischen den Erwerbsquoten von Männern und Frauen beträgt durchschnittlich 12 Prozentpunkte, in Malta 32, in Litauen einen Prozentpunkt.   
 
Was die Qualität der Arbeit betrifft, seien keine eindeutigen Entwicklungsmuster erkennbar, schreiben die WZB-Forscherinnen. In den Niederlanden, Österreich, Deutschland und Italien habe mit der Erwerbsquote auch die atypische Beschäftigung zugenommen. In Großbritannien, Frankreich und Skandinavien sei es dagegen gelungen, die Quote ohne eine Ausweitung atypischer Jobs zu steigern. Vor allem in Deutschland haben die Ungleichheiten in diesem Zusammenhang deutlich zugenommen: Eine unbefristete Vollzeitstelle haben mittlerweile nur noch 19 Prozent der Geringqualifizierten, bei denjenigen mit mittlerer und hoher Qualifikation sind es 44 und 52 Prozent. Um der sozialen Schieflage auf den Arbeitsmärkten entgegenzuwirken, empfehlen Allmendinger und von den Driesch einerseits, für mehr Bildungsgerechtigkeit zu sorgen. Andererseits müsse die Politik Geringqualifizierten mehr Beschäftigungsmöglichkeiten bieten.    

Die Kluft bei den Einkommen wächst: Bildung lohnt sich der Analyse zufolge auch in finanzieller Hinsicht. Im EU-Schnitt verdienen Geringqualifizierte 15 Prozent weniger, Hochschulabsolventen 44 Prozent mehr als Erwerbspersonen mit mittlerer Qualifikation. Deutsche mit Uni-Abschluss kassieren sogar zwei Drittel mehr als ihre Landsleute mit Berufsausbildung. Über die Zeit hat die Polarisierung bei den Einkommen spürbar zugenommen, haben die Sozialwissenschaftlerinnen beobachtet. Zwischen 2006 und 2010 haben die Geringqualifizierten in Deutschland demnach im Vergleich zur mittleren Gruppe 11 Prozentpunkte eingebüßt, die Hochqualifizierten ihren Vorsprung um 9 Prozentpunkte ausgebaut. Nur in Polen und Großbritannien wirkt sich das Bildungsniveau ähnlich drastisch auf das Einkommen aus.

Zwischen den durchschnittlichen Jahresbruttoeinkommen, die zwischen 55.000 Euro in Dänemark und 5.000 Euro in Bulgarien liegen, und der Spreizung der Einkommen scheint nach Einschätzung der WZB-Forscherinnen ein Zusammenhang zu bestehen: In reichen Ländern wie beispielsweise Finnland, Belgien, Schweden, Österreich oder den Niederlanden sei die Ungleichheit tendenziell geringer. Länder wie Litauen, Lettland, Bulgarien oder Rumänien seien dagegen zugleich arm und ungleich.

Die Reichen bekommen immer mehr vom Kuchen: Bei den Vermögen liegt Deutschland laut Europäischer Zentralbank mit einem Medianwert von 51.400 Euro pro Haushalt unter den Euro-Staaten hinten, Luxemburg mit 397.800 Euro vorn. Den höchsten Wert weist Deutschland dagegen zusammen mit Österreich bei der Vermögensungleichheit auf. Die reichsten 5 Prozent der Deutschen und Österreicher besäßen etwa 45 Prozent des Vermögens, die untere Hälfte weniger als 3 Prozent, so Allmendinger und von den Driesch. Genauso wie beim Einkommen habe die Ungleichheit der Vermögen beträchtlich zugenommen. Das effektivste Mittel dagegen wären höhere Steuern auf Kapitalerträge.

Armut breitet sich aus: Analog zur Schieflage bei Einkommen und Vermögen hat sich die Armut entwickelt. 2012 galten 84 Millionen oder 17 Prozent der EU-Bürger als arm, sie hatten weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung. 2005 waren es noch 79 Millionen. Allein in Deutschland belief sich der Zuwachs auf 3 Millionen. Von Armut bedroht sind dabei in zunehmendem Maße auch Erwerbstätige: Mittlerweile, so die Auswertung des WZB, gibt es EU-weit 18 Millionen „working poor“, 8,4 Prozent aller Beschäftigten sind betroffen. 3 Millionen davon leben in Deutschland, wo die Zahl seit 2005 um mehr als eine Million gestiegen ist. Ein Grund dürfte der ausufernde Niedriglohnsektor sein:  21 Millionen Beschäftigte in der EU verdienen weniger als zwei Drittel des mittleren Lohns, allein in Deutschland sind es 5 Millionen. Besonders gefährdet sind hierzulande Teilzeitbeschäftigte und Geringqualifizierte. Helfen könnte laut Allmendinger und von den Driesch zum einen eine möglichst hohe Tarifabdeckung. Zum anderen gelte es, gleiche Rechte und Bezahlung für Teilzeitbeschäftigte durchzusetzen.

Wenn es nicht gelingen sollte, die sozialen Ungleichheiten einzudämmen, droht nach Einschätzung der Wissenschaftlerinnen auch die Demokratie Schaden zu nehmen: Untersuchungen hätten gezeigt, dass verschiedene Formen der politischen Partizipation wie etwa das Engagement in Parteien oder Bürgerinitiativen in ungleichen Gesellschaften zurückgehen. Zudem leide die Solidarität unter den Bürgern nachweislich unter sozialen Gegensätzen. Alles in allem sei davon auszugehen, dass Ungleichheit die politische Exklusion ganzer Bevölkerungsschichten und den Extremismus befördert. Um das zu verhindern, müsse neben der wirtschaftlichen endlich auch die soziale Union vorangetrieben werden. Verfehlte Bildungspolitik, Sozialkürzungen, Arbeitsmarktderegulierung und unzureichende Besteuerung von Vermögen und hohen Einkommen verschärften die Ungleichheit und schwächten den sozialen Fortschritt. 

  • Im EU-Schnitt verdienen Geringqualifizierte 15 Prozent weniger, Hochschulabsolventen 44 Prozent mehr als Erwerbspersonen mit mittlerer Qualifikation. Zur Grafik
  • 21 Millionen Beschäftigte in der EU verdienen weniger als zwei Drittel des mittleren Lohns, 18 Millionen sind trotz Erwerbstätigkeit armutsgefährdet. Zur Grafik

Jutta Allmendinger, Ellen von den Driesch: Social Inequalities in Europe: Facing the Challenge (pdf), WZB Discussion Paper P 2014-005, November 2014

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