zurück
Magazin Mitbestimmung

Interview: „Wir müssen auf Beteiligung setzen“

Ausgabe 10/2014

Der IG-Metall-Vorsitzende Detlef Wetzel über Industrie 4.0, selbstbewusste Mitglieder und warum das Ende der Stellvertreterpolitik ansteht.  Das Gespräch in der IG-Metall-Zentrale in Frankfurt/Main führten Margarete Hasel und Renate Hebauf

Vor Kurzem hat die Bundesregierung ihre „digitale Agenda“ vorgestellt. Prompt hat die IG Metall blinde Flecken entdeckt. Die Folgen für die Beschäftigten seien nur unzulänglich berücksichtigt. Was fordern Sie konkret?

Wir wollen mitreden und mitgestalten, wie die Arbeit der Zukunft aussehen soll. Statt es anderen zu überlassen, ob sich zufällig die Chancen oder die Risiken für die Beschäftigten durchsetzen, wollen wir dafür sorgen, dass sich die Chancen durchsetzen. 

Das heißt?

Wir fordern eine Technikfolgenabschätzung, damit auch alle Fragen, die mit Arbeit zu tun haben, bei Industrie 4.0 bedacht und erforscht werden. Diese Fragen gehen ja nicht nur die Gewerkschaften an, sondern tangieren die Wirtschaftsgesellschaft insgesamt. Deshalb setzen wir uns offensiv für eine starke, moderne Industrie ein. Notwendig ist eine Plattform, die Staat, Arbeitgeber und Gewerkschaften gemeinsam tragen, um für mehr Investitionen in gute und sichere Arbeitsplätze zu sorgen. 

Plattform für Industrie? Das erinnert an das gescheiterte Bündnis für Arbeit. Warum sollten die Bündnispartner diesmal nicht scheitern?

Ganz einfach: Es steht viel auf dem Spiel. Eine Schicksalsfrage, die über Lebensqualität und Arbeitsplätze in unserem Land entscheiden wird.

Ist die IG Metall auf Industrie 4.0 vorbereitet?

Gewerkschaften sind lernende Organisationen. Wir tun uns nicht schwerer als alle anderen auch. Die Vorstellungskraft der wirtschaftlichen Akteure reicht auch heute nicht aus, um die Komplexität der zukünftigen Realität tatsächlich zu erfassen. Wir registrieren: Die Wertschöpfungsketten fragmentieren sich und lösen sich auf. Neuer technologischer Input kommt hinzu, Arbeit wird globaler. Die moderne Industrie umfasst alle Entwicklungen unserer Zeit; nur die statistische Erfassung hat dies noch nicht abgebildet. Mit den etablierten Kategorien sind diese Entwicklungen nicht zu erfassen. Vieles wissen wir noch nicht. Aber klar ist, dass wir angesichts der großen Umbrüche unsere Organisationsstrukturen weiterentwickeln müssen, um die neuen Wertschöpfungsketten abbilden zu können und auf der Höhe der Zeit zu sein. 

Die tradierten Strukturen haben die IG Metall stark gemacht.

Wenn neue Branchen und neue Wertschöpfungsketten entstehen, können wir uns nicht darauf verlassen, dass wir dort mit der gleichen Stärke antreten, wie wir es bisher gewohnt sind. Deswegen müssen wir dort, wo sich neue Strukturen entwickeln, neue gewerkschaftliche Durchsetzungskraft herstellen. Das genau ist ja der Wandlungsprozess.

Nicht zuletzt ist durch diese Entwicklung unser spezifisch deutscher Klassenkompromiss – wir sprachen mal vom „Rheinischen Kapitalismus“ – empfindlich erodiert. Der versprach eine ausreichende Zahl guter Arbeitsplätze und betriebliche und gesellschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten im Tausch gegen Arbeitsleistung und gute Produkte. 

Ja, der ist erodiert. Darauf hat die IG Metall reagiert: Wir haben fast 60 000 Leiharbeiter organisiert, die noch vor fünf oder sechs Jahren als nicht organisierbar galten. Damit sind wir auch zu einem Hoffnungsträger für prekär Beschäftigte geworden. Das verpflichtet. Wir organisieren derzeit auch in einem beträchtlichen Maße Beschäftigte in den industriellen Dienstleistungen, der Automobillogistik und ähnlichen Bereichen. 

Für die Vergangenheit lässt sich die Frage nach der gewerkschaftlichen Machtbasis mühelos beantworten. Wie sieht es in der Zukunft auf?

Heute gewinnen wir sie auch bei den Frauen, bei den Angestellten und bei den jungen Leuten. Auch bei den technischen Experten, bei Ingenieuren, Technikern und Meistern entwickeln wir uns. Viele Entwicklungs-Dienstleister sind bei uns organisiert. Unsere Mitgliedschaft verändert sich rasant. Wir müssen aufpassen, dass wir diese Veränderungsprozesse auch gewerkschaftspolitisch nachvollziehen und unsere Organisationsstrukturen anpassen.

Die Zusammensetzung der Mitgliedschaft und ihre Interessen werden heterogener. Wie kann eine große Organisation wie die IG Metall dabei die Balance halten?

Angesichts der Fragmentierung und Individualisierung gibt es ein Zauberwort: Beteiligung. Wir werden diese Vielfalt in einer großen Organisation nur abbilden können, wenn wir den unterschiedlichen Sichtweisen, kulturellen Hintergründen und sozialen Befindlichkeiten auch Raum geben. Wie sollen wir einen Ingenieur, eine junge IT-Spezialistin oder einen Auszubildenden ansprechen, wenn er nicht die Möglichkeit hat, das, was ihm wichtig ist, in die Organisation einzubringen? Wenn wir diese Prozesse für gewerkschaftliche Stärke nutzen wollen, müssen wir auf Beteiligung und Durchlässigkeit setzen. Dass damit kontroverse und konträre Auffassungen zu ein und demselben Sachverhalt verbunden sein können, müssen wir aushalten.

Da werden aber einige aufhorchen. Das zählte bislang nicht zu den Stärken der IG Metall.

In der vorletzten Tarifrunde ging es um die unbefristete Übernahme von Auszubildenden und um Leiharbeiter. Obwohl das bei uns eigentlich Themen von Minderheiten sind, haben sie sich in einem Diskussionsprozess durchgesetzt. Und die große Mehrheit der Mitglieder war von der tarifpolitischen Bedeutung dieser Themen überzeugt. Deshalb: Beteiligung ist der Schlüssel, um neue Beschäftigtengruppen überhaupt ansprechen zu können. Sie interessiert ja nicht, was uns schon immer wichtig war. 

Der Vorsitzende blickt selbstkritisch auf die eigene Organisation?

Ja, absolut. Es geht mir um Mitgliederorientierung in einem doppelten Sinn: Wir brauchen Mitglieder, um durchsetzungsfähig zu sein, und wir müssen die Dinge vom Mitglied aus denken. Von daher kommend müssen wir alles bündeln. Aber trotz der Notwendigkeit, einheitlich vorgehen zu müssen, darf dies nicht länger Vorwand dafür sein, Minderheitenmeinungen zu ignorieren.

Das klingt nach Kulturrevolution: Die IG Metall entwickelt ein neues Bild vom Menschen in Wirtschaft und Gesellschaft?

Ja. Wir sind nicht mehr dafür da, stellvertretend zu handeln. Dahinter steckt ein Legitimationsproblem, das alle Akteure in der repräsentativen Demokratie ergriffen hat – die Politik ebenso wie die Gewerkschaften, die Betriebsräte oder die Aufsichtsräte. Wir jedenfalls fühlen uns aufgerufen, mit unseren Mitgliedern zusammen zu handeln und mit ihnen und für sie unsere Kenntnisse und Fähigkeiten einzusetzen, damit am Ende etwas Gutes herauskommt. Mitglieder sind Subjekte, die selbst entscheiden, ob und wo sie sich engagieren. 

Der Abschied von der Stellvertreterpolitik trifft bestimmt nicht nur auf Applaus?

Natürlich ist das schwierig. Doch in vielen Branchen, die wir mit Organizing-Teams neu erschlossen haben, war das letztlich der Durchbruch. Erste Aufgabe dieser Teams war es, je nach Betriebsgröße mit einem Drittel oder der Hälfte der Belegschaft zu sprechen und genau hinzuhören, welche Themen den Beschäftigten wichtig sind. Das lief über Eins-zu-eins-Kommunikation, 70 Prozent zuhören, 30 Prozent reden. An diesen praktischen Dingen macht sich auch symbolisch das Ziel von Gewerkschaftsarbeit fest: Menschen zu aktivieren, dass sie ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. 

Wofür sind Menschen bereit, sich zu engagieren?

Sie engagieren sich für die Themen, die ihnen persönlich wichtig sind. Das müssen nicht immer die großen Themen sein. Aber nicht wir entscheiden, was wichtig ist, sondern eine Belegschaft. 

Zum Beispiel?

In einer Abteilung einer kleinen Firma mit viel telefonischem Kundenkontakt mussten die Beschäftigten über 40 Stunden arbeiten und verdienten wenig Geld. Wir haben diese Abteilung lange Zeit beackert und gesagt: Ihr arbeitet viel zu lang und verdient viel zu wenig. Das hatte keinen Effekt. Erst als wir sie befragt haben, kam heraus, dass ihr größtes Problem war, dass sie die Headsets der Vorgänger-Schicht benutzen mussten. Das zu ändern war dann ein erster wichtiger Schritt, sich zu engagieren. 

Die IG Metall hat zwei große Beschäftigten- und Mitgliederbefragungen durchgeführt, 2009 und 2013. Wo hat sich der Erste Vorsitzende von den Ergebnissen eines Besseren belehren lassen?

Die Ergebnisse der Befragung 2009 haben wir als wichtige Basis für die Programmatik genutzt. Die Kampagne „Gemeinsam für ein gutes Leben“ ist daraus entwickelt worden. Aus der Beschäftigtenbefragung 2013 sind kurz- und mittelfristige Tarifstrategien entstanden. Das zeigt, wie wichtig uns die Ergebnisse aus beiden Befragungen sind. 

Weil hier der selbstbewusste Arbeitnehmer spricht?

Das hat sehr viel mit dem Anspruch zu tun, mitbestimmen zu wollen. Ich bin sehr froh, dass sich dies in den Befragungen bestätigt hat. Sie haben jetzt einen großen Einfluss auf die Programmatik und die Handlungspräferenzen der IG Metall. Intern haben wir einen intensiven Diskussionsprozess begonnen: Was heißt Beteiligung in der Betriebspolitik, in der Tarifpolitik, in den gewerkschaftsinternen Strukturen? 

All diese Fragen sollen Anfang November auf einem Kongress in Mannheim gebündelt werden. Es geht um Beteiligung, Mitbestimmung, Demokratie. Warum macht sich die IG Metall gerade jetzt um diese Begriffe Gedanken, die ja so neu nicht sind? 

Wir müssen uns grundlegende Gedanken machen, ob das, was wir heute unter Beteiligung, Mitbestimmung, Demokratie verstehen, ausreicht, um eine zukünftige Gesellschaft gut gestalten zu können. Angesichts der Digitalisierung und der damit verbundenen Veränderungen der Arbeits- und Lebenswelt stellen sich neue Fragen: Was heißt Mitbestimmung ganz konkret, zum Beispiel bei Cloud-Working? Wie setzen wir Leistungsstandards, Leistungsbegrenzungen? Wie bekommen wir Leistung und Bezahlung in ein Verhältnis? Was heißt es für den Arbeitsschutz, wenn ich individualisiert meine Arbeit abwickle? 

Die heutigen Instrumente reichen also nicht aus. Was brauchen wir zur Gestaltung einer digitalisierten Welt? 

Neben den kollektiven Mitbestimmungsrechten müssen wir auch den Wünschen des Einzelnen Rechnung tragen, seine Interessen selbstbestimmt wahrzunehmen. Hier geht es um den „Bürger am Arbeitsplatz“ und die Diskussion: Wie viel individuelle Beteiligungsrechte brauchen wir in der Arbeitswelt? Wir werden nicht daran vorbeikommen, dass Menschen sich besser absprechen müssen im Betrieb, in Arbeitsgruppen, am Arbeitsplatz. Das wird sicher neue Konflikte erzeugen. Mir ist ganz wichtig, dass wir diese Chance nutzen, um endlich mehr Vereinbarkeit von Familie und Beruf durchzusetzen.

Ist Beteiligung dabei nur ein anderes Wort für Mitbestimmung und umgekehrt?

Es geht uns um ein innovatives Verhältnis von Beteiligung und Mitbestimmung. Beide sind siamesische Zwillinge: ohne Beteiligung keine Mitbestimmung. Ohne starke rechtliche Absicherung im Sinne der kollektiven Normen wird es schwer, eine wirksame Beteiligung zu haben. Vor zehn Jahren wurde die Mitbestimmung als das Wettbewerbshemmnis der deutschen Industrie angesehen. Inzwischen hat die Bewältigung der Krise gezeigt, dass das Gegenteil der Fall ist. Wir haben heute außerdem eine internationale Debatte, die sich selbst in Ländern wie Frankreich und Italien, sogar in China, für das institutionelle Gefüge der Mitbestimmung interessiert. 

Der DGB mit Reiner Hoffmann an der Spitze hat ebenfalls eine „Offensive Mitbestimmung“ angekündigt. Sehen Sie Schnittmengen?

Selbstverständlich. Dass der DGB eine mitbestimmungspolitische Initiative startet, ist von uns sehr gewünscht; schließlich hat unser Dachverband ja die Aufgabe, die übergreifende Orientierung für alle mit zu formulieren. 

Viele Foren, viele Referenten, Arbeitsgruppen, Podien, Vorträge: Die IG Metall hat sich einiges vorgenommen. Auf wen zielen die Signale, die von diesem Kongress ausgehen sollen?

In erster Linie auf die innergewerkschaftliche Öffentlichkeit, denn wir müssen die Diskussion zunächst unter uns führen und uns konzeptionell aufstellen. Natürlich soll das auch ausstrahlen auf Politik und Gesellschaft. Der Kongress ist ein erster Kristallisationspunkt, ein Aufschlag, eine Plattform. Deshalb auch die Vielfalt, weil es eine extrem facettenreiche Thematik ist. Am Ende sollen nicht fünf Seiten mit Spiegelstrichen stehen, wie wir das Mitbestimmungs- und das Betriebsverfassungsgesetz ändern wollen. Das ist alles wichtig. Wir brauchen jetzt aber eine große Erzählung: Wie wollen wir die Zukunft gestalten? Damit verbunden sind Werteentscheidungen von großer Tragweite für unsere Gesellschaft: Gehen wir in Richtung mehr Demokratie, Partizipation? Geben wir dem Einzelnen mehr Rechte? Ergänzen wir unsere repräsentativen Gremien um Formen der direkten Einflussnahme? Das ist nicht ohne Risiko, denn Demokratie ist schwer, Demokratie ist mühsam, Demokratie kostet Geld. Beteiligung will gelernt sein. Beteiligung zu organisieren auch. 

Die IG Metall steht für diese Werte?

Ja; sie sind die Orientierungspunkte, um unser kooperatives Wirtschaftsmodell weiterzuentwickeln. Leider haben wir, gemessen an den Herausforderungen, nicht zu viel Mitbestimmung in dieser Gesellschaft, wir haben zu wenig. Das ist auch ein Warnruf.

ZUR PERSON

Detlef Wetzel, 61, ist seit November 2013 Erster Vorsitzender der IG Metall. Für die ist der Werkzeugmacher und Sozialpädagoge seit rund 35 Jahren im Einsatz. Eng mit seinem Namen verbunden sind Organizingkampagnen, die den Abwärtstrend bei der Mitgliederentwicklung stoppten. Jetzt will er eine Debatte über Beteiligung, Mitbestimmung und Demokratie in Wirtschaft und Gesellschaft anstoßen. Auftakt ist der IG-Metall-Kongress am 5./6. November im Mannheimer Rosengarten.

Zugehörige Themen

Der Beitrag wurde zu Ihrerm Merkzettel hinzugefügt.

Merkzettel öffnen