Quelle: HBS
Magazin MitbestimmungKommunen: Duisburger Blues
Was passiert, wenn eine Stadt chronisch klamm ist und ihre Verwaltung zunehmend ausgedünnt wird? Die Folgen sind gravierend: Wartezeiten auf Ämtern, kaputte Brücken, eingeschränkter Nahverkehr. Die Stadt kann ihren notwendigsten Aufgaben nur noch bedingt nachkommen. Ein Besuch in Duisburg. Von Carmen Molitor
Rainer Hagenacker sagt, er sei „Duisburger mit Herz und Seele“. Der ruhige 57-Jährige hat nur die ersten zwei Monate seines Lebens woanders verbracht und mag die Stadt, zu der Ortsfremden meist nur der Niedergang von Kohle und Stahl, Schimanski, die hohe Arbeitslosigkeit, das Drama der Love Parade und die Probleme durch den Zuzug vieler Armutsflüchtlinge einfällt. Er blieb Fan des MSV, obwohl der inzwischen in der dritten Liga kickt, und lobt die Schönheit des Landschaftsparks Duisburg-Nord. Der gelernte Sozialarbeiter ist schon sein gesamtes Berufsleben bei der Stadtverwaltung angestellt, hat nie etwas anderes als einen klammen Arbeitgeber erlebt und vertritt als Vorsitzender des Personalrats der „Inneren Verwaltung“ und ver.di-Gewerkschafter die Interessen von 5600 Beschäftigten. Wer mit ihm in seiner Heimatstadt unterwegs ist, erfährt viel darüber, was hier schief läuft, weil seit mehr als drei Jahrzehnten hauptsächlich der Rotstift die Stadt regiert. „Wir haben gelernt, mit mancher Verrücktheit zu leben“, sagt er.
Wer im richtigen Moment investieren kann, spart oft auf lange Sicht viel Geld. Aber Duisburg ist inzwischen so pleite, dass es sogar Chancen zum Sparen verstreichen lassen muss. Um die Auswirkungen zu zeigen, beginnt Rainer Hagenacker seine etwas andere Stadtführung auf dem Bahnsteig der U-Bahn-Station am Hauptbahnhof. Gerade fährt ein Zug der Stadtbahnlinie U 79 ein. Wie lange diese wichtige Nahverkehrsverbindung nach Düsseldorf das noch tut, ist unklar. Der Stadt fehlen 28 Millionen für nötige neue Tunneldurchfahrts- und Zugsicherungstechnik. Düsseldorf nutzt die gleiche Technik und hat eine gemeinsame Ausschreibung beider Städte für die Erneuerungsarbeiten vorgeschlagen. „Aber hier war man nicht in der Lage, zum jetzigen Zeitpunkt an dieser Ausschreibung teilzunehmen, weil nicht geklärt ist, wie Duisburg das finanzieren kann“, sagt Hagenacker. Später werde Duisburg alleine eine Ausschreibung machen müssen, die wohl teurer wird. Er sehe das Risiko, „dass die Erneuerung nicht mehr rechtzeitig fertig wird, man Abstimmungsprobleme mit den Düsseldorfern bekommt und sich die Frage stellen muss, ob man die Linie unterbrechen muss“, seufzt Hagenacker. Eine dieser „Verrücktheiten“, unter der in diesem Falle Tausende Pendler leiden müssten.
Bei Straßen und Brücken, die die Stadt Duisburg unterhalten muss, sieht es nicht besser aus. Bis zu 30 Millionen im Jahr müsste man aufwenden, um sie dauerhaft verkehrssicher zu halten. Ausbesserungsarbeiten werden oft lange verschoben, sagt Hagenacker. Für die Autofahrer bedeutet das Slalomfahrten um notdürftig geflickte Schlaglöcher und nervenzehrende Staus vor Endlosbaustellen. Rainer Hagenacker deutet auf die Karl-Lehr-Brücke über die Ruhr. Sie verbindet die Duisburger Stadtteile Kaßlerfeld und Ruhrort, wo der größte Binnenhafen Europas liegt. Pkws und Lkws schlängeln sich langsam, dicht an dicht durch die unübersichtliche, enge Baustelle mit mehreren Teilbrücken. „Diese Brücke ist eines der drei Nadelöhre in die Stadt“, sagt Hagenacker. Jahrelang zögerte sich die Planung der nötigen Sanierungsarbeiten hinaus. „Irgendwann haben Bautechniker der Stadt gesagt, wenn da nichts passiert, tragen wir nicht mehr das Risiko“, berichtet Hagenacker. „Dafür ist Courage erforderlich, und es wird auch lange überlegt, ob man das macht.“
Gebaut wird an dem kurzen Stück seit zwei Jahren. „Nach meinem Eindruck dauert das alles sehr viel länger, als es üblicherweise dauern könnte und müsste“, kritisiert der Personalratsvorsitzende. Die Sanierung liegt in der Planungshoheit der Stadt, wird aber zu 90 Prozent vom Land NRW finanziert. „Das Land stellt bestimmte Bedingungen, bevor der nächste Ausbauabschnitt realisiert wird. Da sind städtische Eigenanteile nötig, die aber längst verplant waren, um andere Baumaßnahmen zu machen“, erklärt der Hagenacker. So ist es oft: Investiert man Geld an der einen Stelle, fehlt es schmerzlich an einer anderen. Es ist wie mit einer zu kurzen Decke: Irgendwo friert man in Duisburg immer.
WENIGER EINNAHMEN, MEHR BELASTUNGEN
Wenn man so will, hat die Finanzmisere deutscher Städte und Gemeinden in Duisburg angefangen. Hier verfügte Stadtkämmerer Wolfram Dumas im August 1977 die erste Haushaltssperre einer Kommune der Bundesrepublik Deutschland. Zum ersten Mal herrschte in einer Stadt ein Ausgabenstopp für alles, was über ihre gesetzlichen Pflichtaufgaben hinausging. Statistisch gesehen stand damals jeder Duisburger mit 2000 DM in der Kreide. Die wichtigste Geldquelle der Stadt sprudelte nicht mehr zuverlässig: Aus der selbst ernannten „Stadt Montan“ kamen damals 40 Prozent des deutschen Stahls, neun der zehn größten Unternehmen gehörten zur Montanindustrie. Aber als die Stahlbranche Dauerflaute meldete, ging auch der Stadt langsam die Luft aus.
Einerseits gingen die Steuereinnahmen zurück, andererseits stiegen die Belastungen durch Land und Bund, dies sorgte dafür, dass Duisburgs Kassen seit Ende der 70er Jahre nie mehr ausreichend gefüllt waren. „Bund und Land haben die Kommunen mehr oder weniger ausgeblutet“, betont der Personalrat. „Sie übertragen den Städten und Gemeinden bis heute immer neue Pflichtaufgaben, aber was an Finanzierung reinkommt, reicht für eine Stadt wie Duisburg nicht aus, um damit über die Runden zu kommen.“ Jahr für Jahr gibt die Stadt um die 15 Prozent mehr aus, als sie einnimmt, schätzt Hagenacker. Die Deckungslücke hat sie über Jahrzehnte immer wieder durch Kassenkredite finanziert, die sich inzwischen auf 1,7 Milliarden Euro belaufen.
Wenn gespart werden muss, geht es in jeder Kommune den „freiwilligen Aufgaben“ als Erstes an den Kragen. Auch in Duisburg. Es gibt kein städtisches Theaterensemble, die Stadt kauft Produktionen aus den Nachbarstädten ein. Die Mitgliedschaft Duisburgs in der „Deutschen Oper am Rhein“, in den 50er Jahren als Kooperationsprojekt der Städte Duisburg und Düsseldorf gegründet, steht immer wieder zur Debatte. Seit vor zwei Jahren die neu gebaute Mercatorhalle, eine zentrale Veranstaltungshalle in der Innenstadt, schließen musste, hat sich auch das Angebot an Konzerten und anderen Unterhaltungsangeboten in Duisburg verringert. In der Halle, die die Stadt gepachtet hat, waren gravierende Verstöße gegen Brandschutzrichtlinien aufgefallen. „Es gibt erhebliche bautechnische Mängel, bei denen ich mir die Frage stelle: Konnte das nicht früher bemerkt werden?“, sagt Personalratsvorsitzender Hagenacker kopfschüttelnd. Seine Erklärung: „Wir haben einfach nicht mehr genügend eigene Ingenieurinnen und Ingenieure, die Baumaßnahmen begleiten und so etwas rechtzeitig erkennen können.“ Jetzt muss die Stadt nicht nur für die Sanierung der Halle zahlen, sondern verliert auch Millionensummen, weil sie während der Schließung diese „Location“ nicht an Veranstalter weitervermieten kann.
Auch über den städtischen Bibliotheken schwebt ein Damoklesschwert. 1975 hatte Duisburg noch 39, davon fielen bis 1994 bereits 26 den Einsparungen zum Opfer. Übrig blieben neben der Zentralbibliothek sechs Bezirks- und sieben Stadtteilbibliotheken. „Seit 2001 wurde immer wieder der Versuch gemacht, weitere Bibliotheken zu schließen, aber die Politik hat das jedes Mal abgelehnt“, sagt ein Insider aus der Stadtverwaltung. Er befürchtet nun Schlimmeres und dass die nächste Sparrunde im Herbst mit der Schließung aller sieben Stadtteilbibliotheken enden könnte. Besonders für Kinder fehlen dann Orte der Bildung und kulturelle Treffpunkte im Viertel.
In diesem Jahr standen erstmals Bürger bei Stadtteilbibliotheken vor verschlossenen Türen, weil Mitarbeiter krank waren. In allen Bereichen hat die Stadt ihr Personal immer weiter ausgedünnt. Werden Stellen frei, gibt es zunächst keine Genehmigung zur Neubesetzung durch externe Bewerber – mit den entsprechenden Auswirkungen auf den Service für die Bürger. Während in der allgemeinen Verwaltung die Beschäftigten notfalls in anderen Abteilungen aushelfen können, ist das in Fachämtern wie den Bibliotheken nicht möglich: Eine Verwaltungskraft kann keine fehlende Musikbibliothekarin ersetzen.
Auch in der zentralen Kfz-Anmeldestelle bleiben nachmittags schon lange Schreibtische leer, weil viele Beschäftigte nur bis mittags arbeiten. Ein häufiges Phänomen: Denn ein Viertel der städtischen Beschäftigten arbeitet in Teilzeit plus ein Drittel in Altersteilzeit. „Dann werden die Wartezeiten hier regelmäßig viel länger“, sagt eine Mitarbeiterin. Rainer Hagenacker nickt. Er geht davon aus, dass überall in der Verwaltung bald noch viel mehr Schreibtische verwaist sind. Zwischen 2010 und 2022 sollen im Kernverwaltungsbereich pauschal 1000 Vollzeitstellen durch Fluktuation abgebaut werden, sagt er. Zunächst solle nur jede zweite frei werdende Stelle wieder besetzt werden – und es wird bald viele Stellen geben, die aus Altersgründen frei werden: Im klassischen Verwaltungsbereich sind 40 Prozent der Mitarbeiter über 50 Jahre.
„Schrittweise sollen 570 Stellen abgebaut werden“, sagt dagegen die Stadtverwaltung. „Dies soll nicht willkürlich, sondern gesteuert geschehen, begleitet von einem wirkungsvollen aufgabenkritischen Verfahren unter Einbeziehung der Beschäftigten, der Politik und der Personalräte.“ Oberbürgermeister Sören Link, 38, SPD, mache sich für ein zukunftsorientiertes Personalentwicklungskonzept stark und habe das Personaldezernat unter seine Leitung gestellt.
Personalrat Hagenacker sagt, dass die Stadt den schon erfolgten Stellenabbau ausblende. Er glaubt nicht, dass sich der Sparplan durchziehen lässt. Das verbleibende Personal könne die Pflichtaufgaben nicht mehr seriös erledigen. „Schon heute stellen selbst Amtsleiter Überlastungsanzeigen und deuten Gefährdung an, weil sie ihre Pflichtaufgaben mit den wenigen Mitarbeitern nicht mehr geregelt kriegen“, sagt er ernst. „Ihnen wird gesagt: Mach eben ein Programm, wie du das Minimum hinbekommst.“
RECHNUNGEN BLEIBEN LIEGEN
Eine weitere dieser „Verrücktheiten“ ist, dass die Stadt einerseits Stellen abbaut, andererseits aber elementare Dinge nicht mehr erledigen kann. Zum Beispiel Rechnungen schreiben: 2009 wurden wenige und 2010 wurden keine Verwaltungsfachkräfte ausgebildet, heute fehlen in Duisburg Mitarbeiter, die in der Lage sind, bei den Krankenkassen die Einsätze von Rettungssanitätswagen abzurechnen. Rechnungen gingen erst mit über 400 Tagen Verspätung raus, ein Rückstand von 18 Millionen Euro lief auf. Leiharbeiter sollen diesen Rückstand jetzt aufarbeiten. Auch die Einbürgerungsstelle meldete Land unter: Aus einem Team von sechs Mitarbeitern war hier aufgrund von Krankheitsfällen und nicht mehr besetzten Stellen nur ein einziger Mitarbeiter übrig geblieben, bei dem sich 1500 unbearbeitete Anträge auf Einbürgerung stapelten. Für ein halbes Jahr sollte es keine Möglichkeit geben, sich in Duisburg einbürgern zu lassen. An solch kuriose Meldungen haben sich die Duisburgerinnen und Duisburger schon lange ebenso gewöhnt wie an die Bauruine im Innenhafen oder die riesige brachliegende Fläche vor dem Hauptbahnhof, wo hochfliegende Immobilienprojekte auf halbem Weg an Finanzproblemen zerschellten.
Andere Sparbeschlüsse bringen sie auf die Barrikaden. Für die Hombergerin Renate Bohorc war eine rote Linie überschritten, als die Stadt das öffentliche Hallenbad samt Sauna in ihrem Stadtteil abstoßen und einem Verein übertragen wollte. „Dann muss man Mitglied werden, und die Öffnungszeiten sind eingeschränkt“, argumentiert sie. Unmöglich, fand Bohorc. Das Bad sei ein wichtiger Treffpunkt, „es ist hier sonst ja einfach nichts“. Sie gründete eine Bürgerinitiative und sammelte innerhalb von nur vier Wochen über 17 000 Unterschriften. Mit Erfolg: Der Rat sagte zu, zumindest das Freibad „für die nächsten Jahre“ offen zu lassen. Auch andere Bürgerinitiativen lehnen sich gegen die Sparbeschlüsse auf und wollen den Stadtwerketurm vor dem Abriss retten, Duisburgs weithin sichtbares Wahrzeichen.
Land und Bund müssten sich dringend über eine „halbwegs solide Mindestfinanzierung“ für eine Kommune Gedanken machen, findet Hagenacker. Damit „diese Verrücktheiten“ mal irgendwann aufhören. Duisburgs Kämmerer Peter Langner sucht derweil in einer ausgepressten Zitrone nach weiterem Saft. Es ist abzusehen, dass er das vorgeschriebene Sparziel im laufenden Haushalt um 8,1 Millionen verpassen wird – das Land fordere der Stadt in Sachen Asyl zu viel ab, und die Kosten für Jugendhilfe und Hilfe bei Pflegebedürftigkeit lägen höher als erwartet. Am Tag von Personalrat Hagenackers Stadtführung, am 31. Juli, hat er eine erneute Haushaltssperre erlassen.
DUISBURG: Stärkungspakt
Das überschuldete Duisburg wurde 2011 verpflichtet, sich am „Stärkungspakt Stadtfinanzen“ des Landes NRW zu beteiligen, das die schwächsten Kommunen bis 2020 mit 5,85 Milliarden unterstützt. Duisburg erhält 53 Millionen Euro jährlich als Konsolidierungshilfe. Im Gegenzug legte die Stadt 2012 der Bezirksregierung erstmals einen Haushaltssanierungsplan vor und muss ihn jährlich fortschreiben. 2016 soll sie mithilfe von Landesmitteln erstmalig einen ausgeglichenen Haushalt darstellen. Bis 2021 muss sie das ohne Unterstützung schaffen. Im September wird die rot-rot-grün regierte Stadt unter Leitung von Oberbürgermeister Sören Link (SPD), der das schwere Erbe des umstrittenen Adolf Sauerland antrat, einen neuen Haushaltsentwurf diskutieren, von dem viele neue Einschnitte erwartet werden. Duisburg hat mit 13,6 Prozent eine der höchsten Arbeitslosenquoten Deutschlands (NRW: 6,5 Prozent) und gehört mit einem Hebesatz bei der Gewerbesteuer von 520 Prozent und der Grundsteuer von 695 Prozent zu den teuersten Standorten in Deutschland. Die Höhe der Kassenkredite, mit denen sich die Stadt liquide hält, liegt bei 1,75 Milliarden. 2012 betrug die Pro-Kopf-Verschuldung 8149 Euro. Die Gewerbesteuereinnahmen sanken von 185 Millionen in 2012 auf 171,1 Millionen im letzten Jahr.