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Magazin Mitbestimmung

Europawahl: Für dieses Europa streiten die Kandidaten

Ausgabe 05/2014

766 Abgeordnete, darunter 99 aus Deutschland, werden ins neue Europäische Parlament einziehen. An neun aussichtsreiche Kandidatinnen und Kandidaten schickten wir Fragen zu Politikfeldern, auf denen sie für die demokratische Legitimation der EU streiten. Hier sind ihre Antworten.

JEAN-CLAUDE JUNCKER, 59, ist der Spitzenkandidat der christdemokratisch-konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) und damit zugleich Bewerber für den Posten des EU-Kommissionspräsidenten. Juncker war 19 Jahre Ministerpräsident von Luxemburg und führte von 2005 bis 2013 die Euro-Gruppe der Finanzminister an. „Wir dürfen die Sozialpolitik nicht den Sozialisten überlassen“, lautet seine Kampfansage an Martin Schulz.

MARTIN SCHULZ, 58, ist Spitzenkandidat der Europäischen Sozialdemokraten, SPE, und führt die bundesweite SPD-Liste an. Der amtierende Präsident des Europäischen Parlaments (seit 2012) ist seit 1994 dessen Mitglied, seit 2004 ist er Vorsitzender der SPE-Fraktion. „Ich will Europas erster demokratisch gewählter Kommissionspräsident werden“, formuliert er sein Ziel.

Am 25. Mai wird auch über das Europäische Sozialmodell abgestimmt. Wo sehen Sie seine größten Defizite?

Juncker: Am 25. Mai wird sogar an vorderster Stelle über das Europäische Sozialmodell abgestimmt. Jobs und soziale Sicherheit, Wachstum und Solidarität gehören zusammen. Genauso wie Wachstum und konsolidierte Haushalte. Denn Wachstum auf Pump kann es nachhaltig nicht geben. Solidarität verbindet im Übrigen auch die beiden anderen Leitmotive meiner Kampagne: Erfahrung und Zukunft. Denn Solidarität ist auch die Zukunftsfrage schlechthin.

Und wenn wir schon bei der Zukunft sind: Ich glaube fest an die Zukunft des Europäischen Sozialmodells, dessen Herkunft und Zukunft die Soziale Marktwirtschaft bleibt. Ein Wirtschaftsmodell, das wir Christdemokraten gewissermaßen erfunden haben. Den Deutschen brauche ich dies nicht zu sagen. Kern dieses Modells ist der Vorrang des Menschen über die Wirtschaft. Aber auch der Vorrang der Arbeit über das Kapital. Deshalb stehen wir Christdemokraten für einen gerechten Lohn und für anständige Arbeitsplätze, von denen man auch leben kann.

Daraus ergibt sich quasi zwangsläufig meine Idee von sozialen Mindestsockeln in Europa. Konkret meine ich damit einen gesetzlichen Mindestlohn, dessen Höhe allerdings im jeweiligen Land und nicht in Brüssel bestimmt wird. Ich meine damit auch ein Grundeinkommen, sodass niemand in Europa auf die Straße oder gar hungern muss. Auch Mindestnormen in Sachen Mitbestimmung in Europas Unternehmen könnten Teil dieses Sockels sein. Dies ist für mich eine zivilisatorische Frage. Denn gerade in Sachen Sozialmodell haben wir eine Modellfunktion auch für die Welt. 

Schulz: Die Krise Europas befeuert Ängste: die Angst vor einer übermäßigen Belastung durch Hilfskredite, die Angst vor einer Entwertung von Ersparnissen, den Job zu verlieren oder keinen neuen zu finden, die Angst um die Rente – die Angst vor der Zukunft. Europa muss diese Ängste sehr ernst nehmen. Europa muss dafür sorgen, dass sich die Bürgerinnen und Bürger in und mit Europa sicher und gut aufgehoben fühlen. Dafür brauchen wir ein Europa mit einem starken sozialen Pfeiler.

Der Sozialstaat ist bewährte Tradition in Europa. Ich kämpfe dafür, dass die EU die Sozialstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten respektiert und sie nicht rein marktwirtschaftlichen Interessen unterwirft oder im Zuge der Krisenpolitik aushöhlt. Wer wirtschaftliche Prosperität und soziale Teilhabe gegeneinander ausspielt, verkennt, dass beide keine Gegensätze sind, sondern sich bedingen und stärken. Wir wollen soziale Mindeststandards europäisch vereinbaren, um europaweit ein möglichst hohes soziales Schutzniveau zu erreichen.

Welche Schritte wird eine EU-Kommission unter Ihrer Präsidentschaft unternehmen, diese Defizite zu korrigieren?

Schulz: Die soziale Marktwirtschaft ist unser Leitbild für die EU. Konkret heißt das für mich: Ich trete dafür ein, dass soziale Grundrechte nicht der Marktfreiheit im Binnenmarkt untergeordnet werden, sie müssen zumindest gleichrangig sein. Die EU muss die Tarifautonomie und Sozialpartnerschaft zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern respektieren und weiter stärken. Die Tarifautonomie muss auch im europäischen Recht noch besser gesichert werden. Außerdem müssen Beschäftigte in Europa effizienter vor Ausbeutung und sittenwidrigen Arbeitsbedingungen geschützt werden. Lohn- und Sozialdumping durch Unternehmen wie durch Staaten darf in Europa kein Raum gegeben werden. Wir müssen Verstöße gegen das Arbeitsrecht wie Verstöße gegen das Wettbewerbsrecht auf europäischer Ebene ahnden und sanktionieren. Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen, die in verschiedenen europäischen Ländern arbeiten und wohnen, dürfen nicht durch Regelungslücken zwischen den nationalen Sozialsystemen benachteiligt werden.

Juncker: Ich glaube an die demokratische, aber auch an die soziale Dynamik dieser Europawahl, die neue Wege geht. Etwa bei der Spitzenkandidatur für die Europäische Kommission. Zum ersten Mal wissen die Menschen, dass jede Stimme für die Union in Deutschland auch eine Stimme für mich als Kommissionspräsident ist. Und somit auch eine Stimme für Solidarität. Denn als Kommissionspräsident will ich jede Maßnahme auf dem Brüsseler Tisch auf ihre arbeitsmarktpolitische und soziale Verträglichkeit hin überprüfen. Denn wir brauchen mehr wirtschaftspolitische, aber auch mehr sozialpolitische Kohärenz. 

Für mich nämlich sind Wirtschafts- und Sozialpolitik zwei Seiten einer Zukunftsmedaille. Und deshalb will ich Wachstum nicht auf dem Rücken der Arbeitnehmerschaft stärken. Denn starkes, nachhaltiges Wachstum ist immer Gemeinwohl-Wachstum, also in erster Linie Wachstum des allgemeinen Wohlstands und der Arbeit.

Was kann die Mitbestimmung der Arbeitnehmer zu einer nachhaltigeren Entwicklung beitragen?

Juncker: Moderne Wirtschaft ist wie moderne Politik: Sie kann nicht länger von oben dekretiert werden. Deshalb demokratisiert diese Europawahl unsere gemeinsame europäische Politik. Und deshalb müssen wir auch unsere Wirtschaft und unsere Unternehmen weiter demokratisieren. Ein Weg hierzu ist mehr Mitbestimmung der Arbeitnehmer in Europas Unternehmen. Deutschland und seine Gewerkschaften haben dabei durchaus Vorbildfunktion für Europa.

Vor allem in der gegenwärtigen Krise, die weder von Europa noch von den europäischen Arbeitnehmern ausgelöst wurde, hat sich die Mitbestimmung bewährt. Denn gerade wenn es stürmt, darf es nicht zur Meuterei kommen. Mitbestimmung verhindert Meuterei. Und nur gemeinsam konnten wir das europäische Schiff auf Kurs halten. Wir haben das Herz des Sturms nun überwunden. Und das europäische Schiff ist nicht gesunken. Nicht zuletzt weil der Euro die Planken zusammengehalten hat. Nun müssen wir weiter gemeinsam Kurs halten, unser Schiff reparieren und zu neuen Horizonten aufbrechen. Das will ich gemeinsam mit Europas Arbeitnehmern und Arbeitgebern zugleich tun. Dies unterscheidet mich von anderen.

Ich will die Mitbestimmung der Arbeitnehmer weiter vorantreiben. Denn diese bringt uns nicht nur sozial, sondern auch wirtschaftlich weiter. Nichts tut einem Unternehmen besser als motivierte Mitarbeiter. Deshalb brauchen wir sowohl einen neuen Unternehmer- als auch einen neuen Mitarbeitergeist. Und wir brauchen Unternehmen, an die die Menschen wieder glauben. Auch hier haben Politik und Wirtschaft viel gemein. Denn Menschen wollen heute überzeugt werden. Das Obrigkeitsdenken gehört endgültig in die Mottenkiste der Sozialgeschichte. Und der EU-Geschichte auch.

Schulz: So wichtig es ist, den Binnenmarkt weiter auszubauen und gute Marktbedingungen für wettbewerbsfähige Unternehmen und besonders einen leistungsfähigen Mittelstand in Deutschland und Europa zu schaffen: Dies darf nicht auf dem Rücken der Menschen und vor allem nicht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erfolgen. Dort, wo wirtschaftliche Aktivität grenzüberschreitend ist, dürfen Arbeitnehmerrechte nicht an den Grenzen Halt machen. In Europa muss Augenhöhe zwischen Arbeit und Kapital, zwischen Arbeitnehmerschaft und Unternehmertum gelten. Außerdem müssen die Standards für Mitbestimmung in Unternehmen europäischer Rechtsform und bei transnationalen Unternehmensaktivitäten weiter ausgebaut werden. 

Bei der Europawahl geht es darum, die politischen Mehrheiten im Europäischen Parlament und die politische Ausrichtung an der Spitze der Europäischen Kommission zu ändern: damit die Rechte der Europäischen Betriebsräte gestärkt und die Mitbestimmung am Unternehmensgeschehen europaweit gesichert und ausgebaut wird.

ELMAR BROK, 68, ist seit 2012 Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten im Europäischen Parlament. Seit 1980 ist er Mitglied dieses Parlaments. Er kandidiert auf Platz zwei der CDU-Landesliste Nordrhein-Westfalen für eines der 99 deutschen Mandate im 766 Abgeordnete umfassenden neuen Europaparlament.

Die Entwicklung an der Ostgrenze der EU macht vielen Menschen Angst. Wo liegt diese Ostgrenze, sagen wir im Jahr 2030? Gibt es eine Alternative zum EU-Beitritt der Ukraine, Herr Brom?

Brok: Europa erlebt die größte und gefährlichste Krise seit Jahrzehnten. Mit der Annexion der Krim, mit dem gewaltsamen Vorgehen russisch geführter und bewaffneter „Separatisten“ und der Drohkulisse der russischen Streitkräfte an der ukrainischen Grenze hat Moskau die territoriale Integrität der Ukraine erheblich verletzt. Spätestens seit der Helsinki-Schlussakte ist es das Recht jedes souveränen Staates, sich für die Allianzen seiner Wahl zu entscheiden. Die ukrainische Bevölkerung hat sich in einem Referendum mit über 90 Prozent für Unabhängigkeit entschieden, und auch die ostukrainische Bevölkerung ist mit rund 80 Prozent auch heute noch gegen einen Anschluss an Russland. Dies kann die Wahl in der Ukraine am 25. Mai erneut bestätigen. 

Die legitime Regierung der Ukraine hat sich aus klugen Erwägungen gegen eine NATO-Mitgliedschaft ausgesprochen. Prinzipiell steht es der Ukraine aber offen, nach Artikel 49 des Vertrages von Lissabon wie jeder andere europäische Staat, der die Bedingungen erfüllt, einen Antrag auf Aufnahme in die EU zu stellen. Das trifft auf die Ukraine aber heute nicht zu. Und trifft vermutlich auch im Jahr 2030 nicht zu. Auch müsste die EU den Antrag heute ablehnen, weil sie selbst die nach den Kopenhagener Kriterien notwendige Kapazität für die Aufnahme eines solch großen Staates nicht erfüllt.

Die Ukraine hat unter allen Präsidenten seit mindestens 15 Jahren aber den Wunsch geäußert, ein Assoziierungsabkommen mit Freihandelszone zu verhandeln. Dieses Abkommen, das in seinem politischen Teil nun unterzeichnet ist, muss mit Leben gefüllt werden, Demokratie, Rechtsstaat und Korruptionsbekämpfung müssen verwirklicht werden. Wenn es beide Seiten wollen, kann etwa eine Lösung nach dem Vorbild des Europäischen Wirtschaftsraumes (Norwegen-Lösung) angestrebt werden. Das wäre eine gute europäische Perspektive. Auf jeden Fall muss die internationale Gemeinschaft der Ukraine, die unter dem Kommunismus und dem Nationalsozialismus – nicht nur im Zweiten Weltkrieg – so viel gelitten hat, zu einer vernünftigen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung verhelfen, an der die ganze Bevölkerung teilhat.

REINHARD BÜTIKOFER, 61, kandidiert auf Platz vier der Grünen-Bundesliste. Er ist seit 2009 Mitglied im Europäischen Parlament – im Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie – sowie stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Fraktion Die Grünen/Europäische Freie Allianz. Zuvor war er Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen. 

Das Erstarken des Rechtspopulismus zeigt die Grenzen des Elitenprojektes Europa, das vor allem den gemeinsamen Markt im Blick hat. Wie kriegt Europa wieder Strahlkraft für seine Bürger, wie gräbt man den Europagegnern das Wasser ab?

Bütikofer: Sprache ist bisweilen verräterisch. Europa ein „Elitenprojekt“ zu nennen signalisiert: „Unsere Sache ist das nicht.“ Aus dieser emotionalen Distanz heraus ist es schwer, den Rechtspopulisten etwas entgegenzusetzen. Europa ist aber, bei aller berechtigten Kritik, immer noch eine der großen Hoffnungen aller progressiven Politik. Kann man denn dem Neoliberalismus national erfolgreicher begegnen? Jugendarbeitslosigkeit wirksamer bekämpfen? Datenschutz eher sichern? Verlässlicher Frieden halten? Umweltverantwortung besser umsetzen? Zugegeben, Europa weist in allen diesen Bereichen große Mängel auf, macht Fehler. Die Art, wie die Troika in Europas Süden „saniert“, ist so ein Fehler. Die Zaghaftigkeit bei der Verwirklichung eines sozialen Europa auch. Ich will hier keine komplette Liste aufzählen. Aber das sind Fehler, die gemacht werden, weil in Europa Mehrheiten regieren, die solche Fehler nicht als Fehler sehen, und nicht weil Europa ein „Elitenprojekt“ wäre. „Wenn etwas anders werden soll, muss etwas anders gemacht werden“, sagte Hegel. Europa braucht eine andere Politik. Wir müssen sagen: Unser Europa kann das besser, und wir wollen aktiv dafür sorgen.

Nicht vor allem neue Strahlkraft braucht Europa, um bei den Bürgerinnen und Bürgern mehr Rückhalt zu gewinnen, sondern bessere praktische Ergebnisse. Aber ohne stärkere Einmischung in die eigenen europäischen Angelegenheiten wächst die Sehnsucht nach den Altären der dreckigen alten Götzen des Nationalismus und Chauvinismus.

EVELYNE GEBHARDT, 60, ist seit 1994 Mitglied des Europäischen Parlaments – im Ausschuss für Binnenmarkt und Verbraucherschutz – und kandidiert erneut auf der SPD-Bundesliste auf Listenplatz sechs. Sie war Berichterstatterin des Parlaments zur Dienstleistungsrichtlinie.

Die Auswirkungen der Anti-Krisenpolitik haben gezeigt: Es braucht Regeln gegen Sozialdumping. Frau Gebhardt, ist es ratsam, den Vertrag von Lissabon aufzuschnüren, um die soziale Dimension stärker zu verankern?

Gebhardt: Die dramatische Wirtschafts- und Finanzkrise hat uns gezeigt, dass die europäischen Mitgliedstaaten enger zusammenrücken müssen, um die sozialen Probleme, die die Krise verursacht hat, zu lösen. Schon lange fordern wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten im Europäischen Parlament ein „sozialeres Europa“. Seitens der europäischen Bürgerinnen und Bürger bestehen insbesondere Unzufriedenheit und Ängste gegenüber einem grenzüberschreitenden Binnenmarkt. Als Verbraucher profitieren sie von den Vorteilen eines offenen Marktes, sind jedoch als Arbeitnehmer den möglicherweise negativen Folgen eines gesteigerten Wettbewerbs ausgesetzt. Für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten gibt es daher nur eine Lösung: die Verankerung sozialpolitischer Mindeststandards als regulierende Ergänzung zur marktöffnenden Wirkung des Binnenmarktes. Die soziale Dimension, unter anderem die Stärkung der Arbeitnehmerrechte und des sozialen Dialogs in Europa, muss daher in der Gesetzgebung verstärkt aufgenommen werden. Es wäre allerdings sehr notwendig, eine Sozialklausel in die Verträge der Europäischen Union aufzunehmen, denn die Stärkung der sozialen Dimension gelingt nur gemeinsam. Denke ich allerdings an den britischen Premierminister Cameron oder seinen ungarischen Kollegen Orban, um nur zwei Beispiele zu nennen, kommen mir große Zweifel, ob wir den Vertrag von Lissabon aufschnüren sollten. Die Wirtschaftsliberalen haben nur eines im Sinn: Deregulierungen. Das bedeutet in deren Augen, dass Soziales ein Hindernis für die Schaffung einer großen Freihandelszone Europa ist. Sollten wir dennoch wagen, den Lissabonner Vertrag aufschnüren? Das muss genauestens überlegt werden.

THOMAS HÄNDEL, 60, ist seit 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments für die Linke und Mitglied des Fraktionsvorstands der Vereinigten Europäischen Linken. Händel war IG-Metall-Geschäftsführer in Fürth und gehört zu den Mitbegründern der WASG.

Wieso kann das Vermögen russischer Oligarchen gesperrt werden, aber nicht der in Europa unversteuert flottierende Reichtum einiger griechischen Reeder, der zur Sanierung des Landes dringend gebraucht würde?

Händel: Ich stelle mir diese Frage auch. Es scheint völlig unverständlich, wieso das Privatvermögen in Griechenland über 200 Milliarden Euro betragen und stetig wachsen kann, während der Staat faktisch zahlungsunfähig ist und sich unter immensen Kosten und knallhartem Spardiktat von der Troika Geld leihen muss. Uns erscheint das irrsinnig. Und statt wenigstens jetzt mit einer Vermögenssteuer die Abhängigkeit von Krediten zu verringern, leiht sich Griechenland am Kapitalmarkt für fünf Prozent frisches Geld. Der nächste Kollaps ist damit vorprogrammiert. Und die Menschen in Griechenland haben immer noch keine Arbeit, die Gesundheitsversorgung ist mittlerweile auf dem Niveau eines Entwicklungslandes. 

Wir sagen: Es braucht einen anderen Entwicklungspfad für Griechenland und für ganz Europa. Es ist genügend Reichtum vorhanden, nur falsch verteilt. Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer. Und die Politik verordnet einfach noch mehr von der falschen neoliberalen Medizin. Dabei hat sich noch kein Land erfolgreich aus der Krise sparen können. Nur mit Umverteilung durch höhere Steuern für Vermögende und Investitionen in menschenwürdige Arbeit, Bildung, öffentliche Infrastruktur und Gesundheit kann Europa sich aus der derzeitigen Abwärtsspirale befreien. Und genau darüber stimmen die Menschen am 25. Mai zur Europawahl ab. Wollen wir ein Europa, in dem die Starken die Schwachen an den Rand drängen? Oder ein solidarisches Europa, in dem alle menschenwürdig und gut leben können. Europa geht anders.

ALEXANDER GRAF LAMBSDORFF, 47, ist seit 2004 Mitglied des Europäischen Parlaments, er war zuletzt stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Binnenmarkt und Verbraucherschutz. Graf Lambsdorff kandidiert auf Listenplatz eins der bundesweiten FDP-Liste.

Die außenpolitischen und zwischenstaatlichen Konflikte des Jahres 1914 sind überwunden und verschwunden. Die sozialen Gegensätze dauern fort. Wie kann Europa ein Projekt werden, das auch den sozialen Frieden sichert?

Lambsdorff: Als Liberale kämpfen wir dafür, unser Europa der Freiheit zu bewahren und ein Europa der Chancen zu schaffen. Gute Bildung ist dabei der Schlüssel, um sich konstruktiv in die Gesellschaft einbringen zu können und gemeinschaftlich für sozialen Frieden zu sorgen. Unser Anspruch ist es, dass Bildung als Bürgerrecht jedem Menschen unabhängig von seinem Hintergrund offensteht. Auf europäischer Ebene gilt es, für Schul- und Hochschulabsolventen den Zugang in die Arbeitsmärkte anderer Mitgliedstaaten weiter zu erleichtern, beispielsweise durch reibungslose Anerkennung von Bildungsabschlüssen. So fördern wir die Mobilität der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und bekämpfen effektiv die Arbeitslosigkeit, gerade unter den jungen Menschen in den Krisenstaaten. Dazu gehört auch ein System, das die unbürokratische Mitnahme und Anerkennung von Sozialversicherungsansprüchen erlaubt.

In einem Europa des sozialen Friedens ist zudem eine erfolgreiche Integrationsarbeit unerlässlich, denn sie baut kulturelle Brücken und sorgt für Einigkeit in Vielfalt. Populistische Debatten um vermeintliche „Masseneinwanderung in die Sozialsysteme“ schaden jedoch massiv. Bestrebungen anderer Parteien, die Arbeitnehmer- und Niederlassungsfreiheit einzuschränken, zuwanderungswillige Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und ihre Angehörigen zu diskriminieren oder gar verstärkte Grenzkontrollen einzuführen, treten wir entschlossen entgegen. Für uns gibt es keine Europäer erster und zweiter Klasse. In den Herkunftsländern müssen vielmehr die Verhältnisse für benachteiligte Bevölkerungsgruppen verbessert werden. Von den Erfordernissen der Grundfreiheit abgesehen, muss aber feststehen, dass die Ausgestaltung der Sozialpolitik Aufgabe der Mitgliedstaaten bleibt – denn Arbeits- und Sozialpolitik wird am besten nah bei den Menschen gemacht und nicht einheitlich für Manchester, Nikosia, Berlin und Lissabon.

BERND LANGE, 58, ist seit 2009 (und von 1994 bis 2004) MdEP. Er ist handelspolitischer Sprecher der SPE-Fraktion, der Fraktion der Europäischen Sozialdemokraten, sowie Berichterstatter des Parlaments für Industriepolitik. Der Spitzenkandidat der niedersächsischen SPD steht auf Platz fünf der SPD-Bundesliste.

Voraussichtlich 2015 wird über das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP entschieden. Herr Lange, kann das Europäische Parlament verhindern, dass die angestrebte Marktöffnung zulasten von Verbraucherschutz und Arbeitnehmerrechten geht?

Lange: Ja. Das Europäische Parlament entscheidet über das Zustandekommen eines Handelsabkommens. Dass wir Sozialdemokraten im EU-Parlament dieses Recht sehr ernst nehmen, hat die von uns durchgesetzte Ablehnung des geplanten ACTA-Abkommens durch das Parlament – und damit sein Scheitern – gezeigt.

Hinsichtlich TTIP haben wir klare Positionen. Wir loten aus, ob es positive Effekte für Jobs und für eine Stärkung der Arbeitnehmerrechte geben kann. Grundlegende ILO-Standards wie die Vereinigungsfreiheit, die Anerkennung von Gewerkschaften und die Schaffung von Betriebsräten gehören in so ein Abkommen hinein. Und wir stellen sicher, dass bestehende europäische Gesetzgebungen und entsprechende Sicherheitsstandards durch TTIP nicht infrage gestellt werden. Dies gilt vor allem für Lebensmittel-, Umwelt- und Gesundheitsschutzstandards sowie für Arbeitsbedingungen und den Datenschutz. Insbesondere wäre ein Einschluss eines außergerichtlichen Investitionsschiedsverfahrens für uns eine rote Linie, die ein klares Nein zu TTIP bedeutet. Wir sind eng an den Verhandlungen dran und haben unsere Haltung auch klargemacht, sodass die für die EU verhandelnde EU-Kommission weiß, in welche Richtung es gehen muss. 

Der bisherige Stand der Gespräche mit den USA ist ernüchternd. Die US-Unterhändler haben sich in vielen Bereichen überhaupt nicht bewegt. Unser Europäisches Sozialmodell beruht auf Teilhabe, auf Solidarität und starken Arbeitnehmerrechten – und unterscheidet sich in diesen Punkten deutlich von den USA oder Asien. Dies werden wir offensiv nach außen vertreten und auch nach innen verteidigen. Wenn es keine Fortschritte in diese Richtung gibt, müssen wir die Verhandlungen sein lassen.

EVELYN REGNER, 58, ist seit 2009 Mitglied im Europäischen Parlament. Als stellvertretende Vorsitzende im Ausschuss für Recht setzte sie sich vor allem für Arbeitnehmerrechte in multinationalen Unternehmen ein. Die österreichische Juristin leitete zuvor das Verbindungsbüro des Österreichischen Gewerkschaftsbundes (ÖGB) in Brüssel.

Immer wieder unterminiert die EU-Kommission mit ihren Richtlinienvorschlägen zum Unternehmensrecht die Mitbestimmung der Arbeitnehmer. Frau Regner, wie kann das nächste EU-Parlament dagegenhalten?

Regner: Der Versuch der EU-Kommission, die Rechte von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern insbesondere bei der Mitbestimmung immer wieder zu verringern, hängt mit zwei Faktoren zusammen. Der erste hängt mit der Wirtschaftskrise zusammen. Nach dem Motto „Nur Sparen hilft bei der Überwindung der Krise“ fühlten sich diejenigen Kräfte gestärkt, die schon lange eine Einschränkung der sozialen und gewerkschaftlichen Rechte forcierten und diese unter dem Vorwand „Abbau von Verwaltungslasten“ für Unternehmen angreifen. Der zweite Faktor liegt in der Zusammensetzung der EU-Kommission begründet, die von konservativen und neoliberalen Kommissaren geprägt ist.

Ein Beispiel dafür ist der jüngste Vorschlag zur Schaffung europaweiter Einpersonengesellschaften, abgekürzt SUP. Der Kommissionsvorschlag sieht keinerlei Mitbestimmung vor, sämtliche bestehenden nationalen Regelungen könnten umgangen werden. Bei anderen wichtigen Themen, die Verbesserungen für die Mitbestimmung bringen könnten, ist die Kommission wiederum säumig, etwa bei der Verlegung von Unternehmenssitzen. Große Unternehmen verlegen in den letzten Jahren verstärkt ihren Satzungssitz in Länder, in denen keine gesetzliche Mitbestimmung besteht. Ein von mir verfasster Bericht, der im Europäischen Parlament mit großer Mehrheit angenommen wurde, sieht die Schließung einer rechtlichen Lücke vor: die Verlegung des Sitzes in ein anderes EU-Land, ohne die Rechtspersönlichkeit zu verlieren. Dies wäre ein Grundstein für die Beibehaltung der Mitbestimmungsrechte. 

Dagegenhalten kann das Europäische Parlament vor allem dann, wenn die Kräfte gestärkt aus der kommenden Wahl hervorgehen, denen die Mitbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ein wirkliches Anliegen ist.

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