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HBS Böckler Impuls

Bildung: Begehrter Hochschulabschluss

Ausgabe 07/2014

Immer mehr Jugendliche beginnen ein Studium. Der Trend zur Hochschulbildung dürfte auch künftig anhalten.

Überfüllte Hörsäle und Wohnungsmangel in Universitätsstädten einerseits, Klagen über unbesetzte Lehrstellen andererseits: Dass sich das deutsche Bildungssystem im Wandel befindet, scheint unübersehbar. Skeptiker warnen bereits vor einem „Akademisierungswahn“. Inwiefern solche Warnungen berechtigt sind, damit hat sich Andrä Wolter auseinandergesetzt. Der Erziehungswissenschaftler von der Berliner Humboldt-Universität hat die aktuelle Situation in einem Aufsatz historisch und international eingeordnet. Nach seiner Einschätzung stellt die wachsende Bedeutung akademischer Bildung eine unvermeidliche Entwicklung dar, weil ein Hochschulabschluss immer wichtiger für den beruflichen Erfolg wird. Demnach wäre in absehbarer Zeit kaum mit einer Entlastung der Hochschulen zu rechnen.

Über Jahrhunderte war die deutsche Universitätslandschaft ausgesprochen überschaubar, schreibt Wolter. Im 15. Jahrhundert habe sich die Gesamtzahl der Studenten im Deutschen Reich auf etwa 6.000 belaufen, bis 1800 seien es vermutlich nie mehr als 10.000 gewesen. Danach ging es bergauf: Mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts setzte „ein steiler, aber diskontinuierlicher Wachstumsprozess“ ein, hundert Jahre später waren etwa 35.000 Bürger immatrikuliert. Schätzungen zufolge stieg die Studierendenquote von 0,5 Prozent im Jahr 1870 über 1,1 Prozent zur Jahrhundertwende bis auf 2,7 Prozent 1931. Unter den Nationalsozialisten ging sie wieder zurück, auf 1,5 Prozent im Jahr 1939. Alles in allem, so der Wissenschaftler, sei seit 1870 ein langfristiger Wachstumstrend erkennbar, der nur durch Kriegs- und Krisenzeiten und die Politik der Nazis unterbrochen wurde. Als Gründe für diese Entwicklung nennt er die steigende Zahl von Gymnasien, die Öffnung der Hochschulen für Frauen, Neugründungen von Universitäten und die Gleichstellung der Technischen Hochschulen. Zugleich hätten die Industrialisierung und die Ausweitung der staatlichen Bürokratie den Bedarf an akademisch geschulten Arbeitskräften erhöht.

Von der Elite- zur Massenuniversität: Trotzdem blieb Hochschulbildung zunächst eine elitäre Angelegenheit. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg hat sich daran laut Wolter etwas geändert. Die Zahl der Studienanfänger sei seit 1950 in fast jedem Jahr gewachsen, um 1970 übertraf sie erstmals die 100.000er-Marke. Zu Wachstumsschüben hätten insbesondere der Ausbau des Hochschulsystems ab 1965 und die Einführung von Fachhochschulen Anfang der 1970er-Jahre geführt. Nach 1981 hätten sich nie weniger als 200.000 Personen bei den Hochschulen eingeschrieben, seit 2003 gebe es konstant mehr als 300.000 Studienanfänger pro Jahr. Die bislang höchste Zahl wurde 2011 mit 520.000 Erstsemestern erreicht – auch dank Sonderfaktoren wie doppelter Abiturjahrgänge und der Aussetzung der Wehrpflicht. Genauso wie die absolute Zahl habe die Quote der Studienanfänger seit den 1950er-Jahren nahezu ununterbrochen zugenommen, so der Forscher. Zuletzt gab es laut den Angaben des Statistischen Bundesamtes einen „sprunghaften Anstieg“ von weniger als 40 Prozent im Jahr 2007 bis auf 55 Prozent 2012.

Deutschland ist kein Sonderfall: Im internationalen Vergleich erscheine die Entwicklung in Deutschland keineswegs außergewöhnlich, stellt der Autor fest, sondern entspreche einem globalen Trend. Lange Zeit sei die Hochschulexpansion hierzulande sogar eher unterdurchschnittlich verlaufen. Entsprechend lag Deutschland im Jahr 2011 nach der Systematik der OECD mit einer Studienanfängerquote von 46 Prozent weit unter dem Durchschnitt der Industriestaaten von 60 Prozent – auch wenn das starke Wachstum der letzten Jahre zu einer Annäherung geführt habe. Hintergrund der weltweiten Entwicklung ist laut Wolter die zunehmende Bedeutung hochqualifizierter Arbeit in allen postindustriellen Volkswirtschaften. Wissenschaftsbasierte Ausbildungswege würden ökonomisch immer wichtiger, herkömmliche Formen gewerblicher, industrieller oder handwerklicher Berufsausbildung verlören an Boden. „Das Argument, die Studienanfängerquoten in Deutschland seien aufgrund der besonderen Bedeutsamkeit der betrieblichen Berufsausbildung so niedrig und deswegen international nicht vergleichbar, wirkt angesichts dieses volkswirtschaftlichen Wandels zu wissengesellschaftlichen Strukturen von Arbeit, Beschäftigung und Wertschöpfung doch ein wenig kurz gegriffen“, urteilt der Forscher.

Mehr Abiturienten, beständige soziale Selektion: Für die aktuelle Situation in Deutschland sind nach Wolters Analyse vor allem Entwicklungen im Schulsystem ausschlaggebend. Der Wechsel von der Grundschule auf ein Gymnasium stelle hierzulande – anders als in den meisten anderen Staaten – nach wie vor die entscheidende Hürde für ein Studium dar. Immer mehr Schüler überwinden diese Hürde: Einschließlich derjenigen, die über berufliche Bildungseinrichtungen eine Studienberechtigung erlangen, hat mittlerweile gut die Hälfte eines Altersjahrgangs Zugang zu akademischer Bildung, stellt der Erziehungswissenschaftler fest. Diese Entwicklung habe die soziale Unwucht im deutschen Bildungssystem allerdings nicht korrigieren können: „Die Population derjenigen, die ihre Schulzeit mit Studienberechtigung abschließen, bildet eine hochgradig nach sozialen Merkmalen vorgefilterte Gruppe.“ Auch ob Abiturienten von der Möglichkeit zu studieren tatsächlich Gebrauch machen, hänge nicht zuletzt vom Bildungshintergrund des Elternhauses ab – selbst bei gleichen schulischen Leistungen.

Der Bildungswettbewerb nimmt zu: Wer aus bildungsfernen Verhältnissen stammt, hat damit zunehmend schlechte Karten, wenn es um berufliche Positionen und Einkommen geht. Denn soziale Verteilungsprozesse würden immer stärker durch formale Qualifikation und Zertifikate legitimiert, schreibt Wolter. Entsprechend gebe es einen wachsenden Druck auf nachkommende Generationen, sich höhere Bildung als „Grundausstattung in der Statuskonkurrenz“ anzueignen. Diese Logik führe zu einer spiralförmigen Verschärfung des Bildungswettbewerbs. Hochschulabschlüsse würden zu einer immer wichtigeren Voraussetzung für Berufserfolg. Vor diesem Hintergrund, urteilt der Wissenschaftler, sei davon auszugehen, dass der Run auf die Universitäten anhalten wird: Deutschland müsse sich nicht nur auf eine Fortsetzung der Expansion, sondern auch auf massive Strukturverschiebungen im Verhältnis von akademischer und beruflicher Bildung einstellen. Die Suche nach Azubis könnte für manche Betriebe durchaus schwieriger werden.

Auf das Hochschulsystem sieht der Bildungsforscher wachsende Herausforderungen zukommen: Zumindest in den nächsten zehn Jahren sei mit einer Entlastung nicht zu rechnen, was kritische Fragen hinsichtlich der Ressourcenausstattung und der Studienbedingungen aufwerfe. Nach 2025 sei aus demografischen Gründen zwar ein Rückgang der absoluten Nachfrage zu erwarten, die Studierquoten dürften aber kaum sinken. Angesichts dieser Entwicklung prophezeit Wolter, dass Warnungen vor einem Qualitätsverlust akademischer Bildung und einem Überangebot von Akademikern auf dem Arbeitsmarkt in den nächsten Jahren Konjunktur haben werden. Neu sind solche Befürchtungen nicht: Klagen über eine arbeitsmarktpolitisch verhängnisvolle Überfüllung der deutschen Universitäten mit „ungeeigneten“ Studierenden, vorwiegend aus den unteren Ständen, gab es bereits im 18. Jahrhundert.

  • Laut OECD lag Deutschland 2011 bei der Studienanfängerquote weit unter dem Durchschnitt der Industriestaaten – auch wenn das starke Wachstum der letzten Jahre zu einer Annäherung geführt hat. Zur Grafik
  • Die Nachfrageströme bei der betrieblichen Berufsausbildung und dem Hochschulstudium nähern sich an. Zur Grafik
  • Die Quote der Studienanfänger hat seit den 1950er-Jahren nahezu ununterbrochen zugenommen. Zur Grafik

Andrä Wolter: Eigendynamik und Irreversibilität der Hochschulexpansion: Die Entwicklung der Beteiligung an Hochschulbildung in Deutschland, in: Ulf Banscherus u.a. (Hrsg.): Übergänge im Spannungsfeld von Expansion und Exklusion – Eine Analyse der Schnittstellen im deutschen Hochschulsystem, wbv, Bielefeld 2014

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