Quelle: HBS
Böckler ImpulsWirtschaftspolitik: „Weiter so“ bremst Wachstum und Jobs
Eine erfolgversprechende Wachstumsstrategie sollte anders aussehen als die Wirtschaftspolitik der Vergangenheit. Deren dominante Angebotsorientierung hat eher geschadet als genutzt, zeigt das IMK.
Die neue Bundesregierung muss die Leitlinien der Wirtschafts- und Sozialpolitik für die kommende Legislaturperiode definieren. Lohnt es sich, die Strategie der vergangenen 15 Jahre fortzusetzen? Das IMK kommt in einer neuen Studie zu dem Ergebnis: Diese Wirtschaftspolitik, die in der „Agenda 2010“ gipfelte, hat Wachstum und Beschäftigung eher behindert als beflügelt. Isolierte positive Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt und bei den Exporten wurden durch gravierende gesamtwirtschaftliche Nachteile überlagert, weil die Strukturreformen die Nachfrage im Inland über lange Zeit gelähmt haben. Eine alternative Wirtschaftspolitik, die weniger Druck auf Lohnentwicklung, soziale Sicherung und Staatstätigkeit ausgeübt hätte, wäre erfolgreicher gewesen, ergeben Simulationsrechnungen mit dem IMK-Konjunkturmodell: Wirtschaftswachstum und Beschäftigung hätten stärker zugelegt als tatsächlich geschehen.
Die IMK-Forscher Alexander Herzog-Stein, Fabian Lindner und Rudolf Zwiener beginnen ihre Untersuchung im Jahr 1999, dem Start der Europäischen Währungsunion und der Reformen der damaligen rot-grünen Bundesregierung. Diese hatten einen klaren Schwerpunkt auf der Angebotsseite mit dem Ziel, die Kosten der Unternehmen zu senken, konstatieren die Forscher. Sie umfassten umfangreiche Steuersenkungen, eine Rentennovelle, in deren Mittelpunkt die neue kapitalgedeckte „Riester-Rente“ stand, und die Hartz-Gesetze am Arbeitsmarkt. Daraufhin, so die Wissenschaftler, verstärkte sich der Trend zu atypischen Beschäftigungsverhältnissen, auch der Niedriglohnsektor wuchs. Von 2003 an reagierte die Regierung zudem auf ein aufgrund von Konjunkturschwäche und geringeren Steuereinnahmen steigendes Staatsdefizit mit einem Sparkurs. Die Folge: Die staatlichen Nettoinvestitionen sind bis heute negativ.
Die Auswirkungen dieser Politik überprüft das IMK mit drei verschiedenen Instrumenten:
Zyklenvergleich: Nachfrageschwäche in der Agenda-Zeit. Die Forscher unterscheiden drei Konjunkturzyklen mit jeweils einem Auf- und Abschwung. Sie reichen von 1999 bis 2005, von 2005 bis 2009 und von 2009 bis Anfang 2013. Im Vergleich fällt nach der Analyse des IMK vor allem die extrem lange wirtschaftliche Stagnation zwischen Anfang 2001 und Mitte 2005 auf. Sie ging einher mit einem drastischen Einbruch aller drei Komponenten der Binnennachfrage: Sowohl der private als auch der öffentliche Konsum sowie die Investitionen lahmten. „Nur die Nachfrage aus dem Ausland“ habe es Deutschland ermöglicht, „überhaupt Wachstum zu erzielen“, schreiben die Studienautoren. Der Zusammenhang mit der damaligen Wirtschaftspolitik sei offensichtlich.
Die schwache Entwicklung der Reallöhne, die zeitweise sogar sanken, dauerte noch länger: bis 2009. Erst im bislang letzten Zyklus stiegen die Löhne auch nach Abzug der Inflation wieder, so die Wissenschaftler. Die deutschen Exporte wuchsen in allen drei Zyklen kräftig, ganz besonders stark im ersten. Eine „Schwäche der internationalen Wettbewerbsfähigkeit, die angebotspolitische Maßnahmen zur Kostensenkung verlangt hätte, lässt sich hier also nicht erkennen“, stellen die Autoren fest. Und gesamtwirtschaftlich habe die Exportstärke die Verluste bei der Binnennachfrage nicht ausgleichen können.
Die Zahl der Erwerbstätigen stieg in allen drei Zyklen, die Arbeitslosigkeit sank. In Zyklus zwei und drei war die Entwicklung allerdings positiver als im ersten. Es gebe Hinweise darauf, dass nach Einführung der Hartz-Reformen „die Effizienz der Arbeitsvermittlung und des gesamten Arbeitsmarktes zugenommen hat“. Allerdings sei dieser Effekt nur klein, betonen die Forscher. Deutlich stärker hätten sich vor allem im zweiten Zyklus die zur Krisenbewältigung gewählten Maßnahmen ausgewirkt, die eine vorsichtige Korrektur der einseitig angebotsorientierten Politik einleiteten: In der Wirtschaftskrise 2008/2009 betrieb die große Koalition mit Investitionspaketen und Förderung der Kurzarbeit eine aktive Konjunktur- und Beschäftigungspolitik. Und die Unternehmen nutzten gerade nicht die durch die Arbeitsmarktreformen erweiterten Möglichkeiten zur Entlassung. Stattdessen reduzierten sie die Arbeitszeit und konnten so erfahrene Beschäftigte halten. Die stabile Lage am Arbeitsmarkt und steigende Löhne stärkten wiederum die private Nachfrage, die im dritten Zyklus eine wesentliche Stütze der Wirtschaftsentwicklung bildet.
Europäischer Vergleich: Deutschland holte erst durch Anti-Krisen-Kurs auf. Der europäische Vergleich offenbart ein ähnliches Muster: Die Arbeitnehmerentgelte in Deutschland stiegen lange weitaus schwächer als im Mittel der EU. Gleichzeitig blieben auch das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigung zurück. So nahm das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zwischen 2000 und 2008 im Durchschnitt des Euroraums um rund 15 Prozent zu. In Deutschland waren es hingegen nur 11,5 Prozent. Trotz der massiven Expansion bei Minijobs und Leiharbeit stieg die Zahl der Erwerbstätigen hierzulande lediglich um 2,5 Prozent. Im Euroraum-Mittel waren es 9 Prozent.
Verbessert hat sich die Entwicklung in Deutschland nach der IMK-Analyse erst, als die Wirtschaftskrise 2009 bewältigt wurde und danach die Löhne wieder etwas stärker stiegen. Allerdings holte nicht nur Deutschland auf – zeitgleich büßten vor allem die europäischen Krisenländer einen Teil ihrer Wachstums- und Beschäftigungsgewinne wieder ein. Die krisenhafte Entwicklung bei Handelspartnern innerhalb und außerhalb Europas minderte auch das deutsche Auslandsvermögen, sodass ein erheblicher Teil der deutschen Leistungsbilanzüberschüsse keinen Gegenwert erzeugt hat. So war das deutsche Nettogeldvermögen im Ausland Ende 2012 um 409 Milliarden niedriger als die kumulierten Leistungsbilanzüberschüsse der Jahre 2000 bis 2012, hat IMK-Experte Lindner mit zwei Ko-Forschern errechnet.
Makroökonometrische Simulation: Stärker nachfrageorientierte Politik hätte mehr Wachstum gebracht. Wie hätte sich eine alternative Politik ausgewirkt? Das untersuchen die Ökonomen in Simulationsrechnungen mit dem IMK-Konjunkturmodell. Sie vergleichen die tatsächliche wirtschaftliche Entwicklung von 1999 bis 2011 mit drei Alternativszenarien.
Szenario eins: Keine Exportnachfrage auf Kredit. Es zeigt, wie abhängig sich Deutschland in den 2000er-Jahren von chronischen Leistungsbilanzüberschüssen gemacht hat. Dafür vollzieht das Konjunkturmodell alle Auswirkungen der Reformen nach, mit einem wesentlichen Unterschied: Was wäre geschehen, wenn ausländische Handelspartner nicht bereit gewesen wären, sich für den Kauf deutscher Waren zu verschulden? Wenn das Ausland stattdessen nur so viel abgenommen hätte, wie es selber in die Bundesrepublik liefern konnte? Das Ergebnis: Zwischen 1999 und 2011 wäre die deutsche Wirtschaft nicht gewachsen, was mehr als fünf Millionen Arbeitsplätze bedroht hätte. Deutschland hat also lange davon profitiert, dass die heutigen Krisenländer auf Kredit importierten – was längst für enorme Probleme gesorgt hat.
Szenario zwei: Stärkere Lohnentwicklung. Das Modell berechnet die Auswirkungen einer stärkeren Lohnentwicklung, die sich am so genannten neutralen Verteilungsspielraum orientiert hätte. Darunter versteht man die Summe aus dem längerfristigen Produktivitätswachstum und der Zielinflationsrate der Europäischen Zentralbank: Insgesamt drei Prozent pro Jahr zwischen 1999 und 2011. Resultat: Die höheren Löhne hätten Beschäftigung und Wirtschaftswachstum genutzt, nicht geschadet. Die Volkswirtschaft hätte sich etwas besser entwickelt als in der Realität: Das BIP wäre nach 13 Jahren um 1,2 Prozent höher, was zu rund 400.000 zusätzlichen Jobs geführt hätte. Mindestens ebenso bedeutsam sind für das IMK zwei weitere Unterschiede: Die Einkommensverteilung wäre nicht so stark auseinandergedriftet. Und: Deutschland hätte einen kleineren Überschuss in der Leistungsbilanz aufgewiesen. Die Ungleichgewichte im Euroraum, eine wesentliche Ursache der Krise in der Währungsunion, wären also gar nicht erst so groß geworden.
Szenario drei: Staat stabilisiert die Nachfrage. In Szenario drei simulieren die IMK-Forscher ab 1999 eine Entwicklung, bei der die Löhne um jährlich drei Prozent gestiegen wären und der Staat zusätzlich seinen Konsum jeweils knapp unterhalb des nominalen Wirtschaftswachstums erhöht hätte – ohne allerdings die Steuern zu senken. Damit, betonen die Wissenschaftler, wäre eine durchaus konservative Finanzpolitik mit längerfristig konstanter Staatsquote verfolgt worden. Trotzdem hätte der Staat deutlich aktiver agiert als tatsächlich seit 1999 geschehen. Auch die Rentenreform mit Kürzung des gesetzlichen Sicherungsniveaus und Einführung der „Riester-Rente“ wäre unterblieben. Ergebnis: 2011 hätte das BIP um 6,5 Prozent über dem tatsächlich erreichten Wert gelegen. Dadurch wären insgesamt rund 1,5 Millionen zusätzliche Arbeitsplätze entstanden, auch Staatseinnahmen und Schuldenquote hätten sich positiver entwickelt.
Für die neue Legislaturperiode empfiehlt das IMK daher eine Wachstumsstrategie, welche die inländische Nachfrage auf zwei Wegen stärkt: Erstens durch einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn und eine gesetzliche Stabilisierung des Tarifsystems. Zweitens durch ein mehrjähriges Wachstumsprogramm, das höhere staatliche Investitionen und eine Stärkung des gesetzlichen Rentensystems umfasst. Zudem sei es wichtig, dass man den europäischen Krisenländern „keine Konzepte aufnötigt, die bei uns nicht funktioniert haben“, so die Forscher.
Alexander Herzog-Stein, Fabian Lindner, Rudolf Zwiener: Nur das Angebot zählt? Wie die einseitige deutsche Wirtschaftspolitik Chancen vergeben hat und Europa schadet (pdf), IMK Report 87, November 2013.