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HBS Böckler Impuls

Mindestlohn: Lohnuntergrenze braucht Inflationsschutz

Ausgabe 17/2013

Alles sieht danach aus, als bekäme Deutschland nach einer zehnjährigen Debatte einen gesetzlichen Mindestlohn. Offen ist, wie ein Mindestlohn festgelegt werden soll. WSI-Experte Thorsten Schulten hält ein zweistufiges Modell für sinnvoll, das auf jeden Fall die Preissteigerung berücksichtigt.

Haben die Wissenschaftler des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung recht, wenn sie im Grundsatz für einen gesetzlichen Mindestlohn plädieren, die von der SPD geforderten 8,50 Euro pro Stunde aber für Arbeitsplatz gefährdend halten?

Schulten: Nein, haben sie nicht. Mehrere Studien zu den bereits heute existierenden Branchenmindestlöhnen, die teilweise deutlich über 8,50 Euro liegen, haben so gut wie keine negativen Beschäftigungseffekte finden können. Die genannten Institute haben auch kein wirkliches Argument, warum 8,50 Euro zu viel sein soll. Verglichen mit dem Mindestlohniveau anderer westeuropäischer Staaten ist der Betrag eher niedrig.

Und wer bestimmt, ob und wann der Mindestlohn steigt? Die Tarifpartner, wie das manche Unionsvertreter fordern?

Schulten: Dieser Vorschlag verkennt die Tatsachen, die einen Mindestlohn überhaupt notwendig machen. Der Mindestlohn muss gerade dort greifen, wo die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer nicht ausreicht, um Existenz sichernde Verdienste zu erreichen. Wenn sich die Arbeitgebervertreter in einer Mindestlohn-Kommission stur stellen und jede Anpassung an die Lebenshaltungskosten blockieren, bleibt der Mindestlohn auf lange Sicht wirkungslos. Im Gegensatz zu normalen Tarifverhandlungen könnten die Arbeitnehmer nicht einmal mit Streik drohen. Erhöhungen kämen schließlich allenfalls durch Schlichtersprüche zustande. Damit läge die Entscheidung über den Mindestlohn in der Hand einer einzigen Person.

Wäre das britische Modell besser: eine Kommission aus Arbeitgebern, Gewerkschaften und Wissenschaftlern?

Schulten: Die Low Pay Commission in Großbritannien hat nur beratenden Charakter. Sie macht Vorschläge auf Basis umfangreicher Analysen, das letzte Wort hat aber die Politik. Und dies sollte auch so sein, denn hier geht es um eine grundlegende gesellschaftspolitische Frage, die man in der Demokratie keinem Expertenzirkel im Hinterzimmer überlassen kann.

Aber eine Mindestlohn-Kommission nach britischem Vorbild, die zumindest Entscheidungsgrundlagen ausarbeitet, ist eine gute Idee?

Schulten: Das britische Modell lässt sich nicht ohne weiteres auf Deutschland übertragen. Dort sitzen Wissenschaftler in der Commission, die dem Mindestlohn-Gedanken aufgeschlossen gegenüberstehen. Das wäre hierzulande kaum zu erwarten, weil die Debatte unter vielen Ökonomen bei uns leider deutlich dogmatischer geführt wird als in Großbritannien. Außerdem blieb der britische Mindestlohn in der jüngeren Vergangenheit trotz Low Pay Commission hinter der Inflation zurück.

Sollte der Mindestlohn also besser an die Preisentwicklung gekoppelt werden?

Schulten: In Frankreich, den Benelux-Ländern und anderen EU-Ländern steigt der Mindestlohn automatisch mit Preisen und Reallöhnen. So ist ein Mindest-Zuwachs garantiert, der Staat entscheidet in Kooperation mit Arbeitgebern und Gewerkschaften über zusätzliche Anpassungen.

Besteht dann nicht die Gefahr, dass der Mindestlohn zu schnell steigt und wirklich Arbeitsplätze vernichtet, weil Politiker sich gegenseitig mit immer höheren Mindestlohnforderungen überbieten?

Schulten: Ein Blick auf die Entwicklung der Mindestlöhne in Europa zeigt: Diese Befürchtung ist eine Schimäre. In den allermeisten Fällen sind die Mindestlohnzuwächse eher moderat.

  • Die Furcht konservativer Ökonomen vor übermäßig schnell steigenden Mindestlöhnen ist unbegründet. Zur Grafik

Thorsten Schulten leitet das WSI-Referat Arbeits- und Tarifpolitik in Europa. Er hat die per Internet frei zugängliche WSI-Mindestlohndatenbank aufgebaut, mit detaillierten Angaben zur Entwicklung der Lohnuntergrenzen in- und außerhalb der EU.

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