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Magazin Mitbestimmung

Belgien: Kampf an drei Fronten

Ausgabe 04/2013

Bis zur Finanzkrise stand Belgien gut da. Nun ist das Land auf die Verliererstraße geraten. Die von der EU geforderten Reformen machen die Lage noch schwieriger. Von Eric Bonse (Brüssel)

Belgien galt lange als Erfolgsmodell. Vor Beginn der Finanzkrise 2008 hatte das kleine Königreich, das zu den wohlhabendsten Ländern der EU zählt, einen ausgeglichenen Haushalt. Die exportorientierte belgische Wirtschaft war mit einem Mix aus Automobil- und Stahlindustrie sowie lokalen Spezialitäten wie dem Diamantenhandel in Antwerpen gut aufgestellt. Selbst die wiederholten Regierungskrisen schienen dem Land nichts anzuhaben.

Doch damit ist es nun vorbei. Die Negativmeldungen reißen nicht ab: Ford will sein Werk in Genk schließen, womit Belgien bereits zum dritten Mal Opfer der Krise im Automobilsektor wird. Zuvor waren bereits die Fabriken von Renault in Vilvoorde und von Opel in Antwerpen dichtgemacht worden. Die belgischen Ford-Arbeiter reagierten mit wütenden Protesten am Ford-Werk in Köln. Es kam zu Ausschreitungen – so groß sind Wut und Verzweiflung. Doch nicht nur der belgische Automobilsektor blutet aus. Der Stahlproduzent ArcelorMittal hat die Entlassung von 1300 Mitarbeitern in Lüttich angekündigt. Der stolze Stahlstandort fürchtet nun um sein Überleben. Die Angst geht auch in Charleroi um, nachdem der US-amerikanische Maschinenhersteller Caterpillar den Abbau von 1400 Jobs angekündigt hat. Die Gewerkschaften fürchten, dass dies erst der Anfang ist und alle 3700 Arbeitsplätze wackeln.

Belgien droht der Verlust seiner Industrie – und das zu einer Zeit, in der die EU in Brüssel gemeinsam mit der Bundesregierung in Berlin eine Reindustrialisierung in Europa fordert. Schuld daran sind nur zum Teil die vergleichsweise hohen Arbeitskosten. In der Automobil- und in der Stahlindustrie wird Belgien vor allem Opfer weltweiter Überkapazitäten. Aus Sicht der Konzerne ist der belgische Markt schlicht zu klein und unbedeutend.

Die Regierung in Brüssel hat dem wenig entgegenzusetzen. Hilflos muss sie mitansehen, wie das einstige Rückgrat der belgischen Wirtschaft, die Automobilindustrie, schwindet. Statt wie einst 1,3 Millionen Fahrzeuge im Jahr laufen demnächst noch rund 400 000 Autos vom Band. Auch von der ehemals stolzen wallonischen Stahlbranche bleibt nicht viel übrig. Gerade einmal 800 Jobs dürften am Standort Lüttich Bestand haben.

„Der Ausdruck ‚wallonische Stahlindustrie‘ macht keinen Sinn mehr“, resümierte der Wirtschaftsforscher Michel Capron in einem Interview mit der Tageszeitung „La Libre Belgique“. Statt an dem Traditionsstandort festzuhalten und sogar eine Verstaatlichung zu fordern, sollten sich die Gewerkschaften Gedanken über neue industriepolitische Projekte machen. Schließlich habe selbst Frankreich nicht viel gegen ArcelorMittal ausrichten können, so Capron. Die französische Regierung hatte dem Stahlkonzern wegen Kürzungsplänen mit Verstaatlichung gedroht, schließlich aber klein beigegeben.

In Brüssel hat man ohnehin andere Sorgen. Neben dem Dauerstreit zwischen Flamen und Wallonen muss die Regierung um den sozialistischen Premier Elio Di Rupo den Staatshaushalt in den Griff kriegen. Das Defizit ist seit der Finanzkrise aus dem Ruder gelaufen; die Pleite der belgisch-französischen Dexia-Bank hat die Lage noch verschlimmert. Die Rettung kostete rund 0,8 Prozent des BIP und könnte Belgien ein EU-Defizitverfahren eintragen.

Das wäre eine Katastrophe für ein Land, das bereits den vierten Sparplan in Folge verabschiedet hat, um das Defizit unter die Drei-Prozent-Grenze zu drücken. Weitere Kürzungen, eine millionenschwere EU-Strafe gar könnte Belgien kaum verkraften. Denn Di Rupos Regierung kämpft außer an der sozialen und der fiskalischen noch an einer dritten Front: Sie will, wie von der EU gefordert, den Arbeitsmarkt reformieren und eine heilige Kuh der belgischen Tarifpolitik schlachten: die Lohnindexierung. Bisher ist gesetzlich vorgeschrieben, dass arbeits- und kollektivvertragliche Löhne wie auch die Renten automatisch an die Steigerung der Lebenshaltungskosten angepasst werden.

Dies zu kassieren stößt jedoch auf erbitterten Widerstand der Gewerkschaften. Sie fürchten, neben dem Arbeitsplatz- nun auch noch einen Reallohnverlust hinnehmen zu müssen. Bei einer Großdemonstration in Brüssel am 21. Februar gingen rund 40 000 Menschen auf die Straße. Wie auch am 30. März in Lüttich, wo viele gegen die Deindustrialisierung der Region demonstrierten. Einige Arbeitnehmer-Verbände drohen sogar mit Generalstreik, um die „Lohnblockade“ zu überwinden. Aus dem Erfolgsmodell Belgien ist ein Krisenkandidat geworden – ausgerechnet im Herzen der Europäischen Union haben die EU-Rezepte versagt.

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