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Magazin Mitbestimmung

EBR-Forschung: Wenn Solidarität unter Druck gerät

Ausgabe 04/2013

Wissenschaftler warnen vor einer Überfrachtung der noch jungen Institution Eurobetriebsrat mit überzogenen Erwartungen. Und suchen nach dem Erfolgsgeheimnis gelungener Solidarität. Ein Überblick über aktuelle Forschungsergebnisse. Von Guntram Doelfs

Keine Frage, John Fetherston ist bester Stimmung. Der englische Gewerkschafter steht an diesem 17. Mai 2012 am Werkstor des „Cheshire Plant“ von Vauxhall in Ellesmere Port und fühlt sich als Retter. Nicht nur für das Werk der englischen Tochter von General Motors, sondern auch für die Industriestadt mit rund 65 000 Einwohnern vor den Toren Liverpools. „Ohne den neuen Astra würde es kein Ellesmere Port mehr geben“, erzählt Fetherston einer Reporterin der BBC. Dafür hat seine Gewerkschaft Unite erhebliche einseitige Lohnzugeständnisse gemacht. Während Fetherston jubelt, sind deutsche Gewerkschafter entsetzt über das Vorgehen ihrer englischen Kollegen. Das Opel-Werk Bochum steht nicht zuletzt deswegen Ende 2014 vor dem Aus, Tausende deutsche Autobauer verlieren ihren Job. Gleichzeitig kommt es zu erheblichen Spannungen im Europäischen Betriebsrat (EBR) von GM. Der hatte bis dahin das Prinzip „Equal share of pain“, also den „gleichen Anteil an schmerzhaften Einschnitten“ im Konzern propagiert. Nun steht er düpiert da.

Nur wenige Monate später kommt es zu einer weiteren heftigen Konfrontation unter europäischen Gewerkschaften. Als der US-Autobauer Ford die Schließung des Werkes im belgischen Genk ankündigt, kracht es nicht nur zwischen Management und belgischen Autobauern, sondern belgische Gewerkschafter erheben auch heftige Schuldvorwürfe gegen ihre deutschen Kollegen von der IG Metall. „Die Deutschen reden immer nur von europäischer Solidarität, aber in Wahrheit haben sie immer nur ihre nationalen Interessen im Blick: in der Politik und in der IG Metall“, schimpft Rohnny Champagne, Verhandlungsführer der belgischen Metallgewerkschaft ABVV, in der „Financial Times Deutschland“. Der Vorwurf trifft die deutschen Gewerkschafter schwer, er führt auch zu starken Spannungen im Europäischen Betriebsrat (EBR) von Ford (siehe Interview S. 34).

NÜCHTERNER BLICK AUF EIN HETEROGENES BILD

Im Überlebenskampf um Produktionsstandorte „zerbröselte in der Krise“ die bislang gute und solidarische Zusammenarbeit in beiden EBR, urteilt Luitpold Rampeltshammer, Leiter der Kooperationsstelle Wissenschaft und Arbeit der Uni des Saarlandes. Er hat gemeinsam mit anderen Forschern am Beispiel der Automobilindustrie in zwei Forschungsprojekten für die Hans-Böckler-Stiftung über Eurobetriebsräte in der Wirtschaftskrise geforscht. Wird jetzt auch die grenzüberschreitende Solidarität unter Arbeitnehmervertretern zum Opfer der Krise? Und: Welche realistischen Handlungsmöglichkeiten haben EBR in der Wirtschaftskrise überhaupt?

„Ist es überhaupt realistisch, von einem EBR zu erwarten, dass er Einfluss auf grenzüberschreitende Restrukturierung nimmt, wenn wir uns anschauen, was ein mit viel stärkeren Rechten ausgestatteter Betriebsrat in Deutschland erreichen kann?“, fragt Axel Hauser-Ditz. Der Sozialwissenschaftler hat in einem Forscherteam an der Ruhr-Universität Bochum unter der Leitung von Ludger Pries EBRs in der Automobilzulieferindustrie untersucht. „Wir dürfen den Eurobetriebsrat nicht überfordern“, urteilt auch der Industrie- und Betriebssoziologe Hermann Kotthoff. Er hält Auseinandersetzungen wie bei GM und Ford für kein Indiz für schrumpfende Solidarität unter europäischen Arbeitnehmervertretern. „Beim Kampf um Standorte passiert so etwas auch unter deutschen Betriebsräten“, meint Kotthoff, der derzeit an einem Buch über das Erfolgsgeheimnis von gut arbeitenden EBR schreibt.

Von einfachen Werturteilen über Erfolg und Misserfolg der Eurobetriebsräte in der Wirtschafts- und Finanzkrise hält die aktuelle EBR-Forschung deshalb wenig. Die Forscher zeichnen ein sehr heterogenes und komplexes Bild der Handlungsfähigkeit der aktuell knapp über 1000 Gremien in Europa. Die Gründe sind vielfältig. So sind die Bedingungen in den verschiedenen Branchen sehr unterschiedlich, in etlichen Wirtschaftsbereichen gibt es bislang kaum oder nur wenige EBR. Zudem ist es häufig schwierig, grundlegende strukturelle Probleme einer Branche von aktuellen Krisensymptomen zu trennen. Ein Beispiel dafür ist auch hier wieder der Automobilsektor, der in der EBR-Forschung bislang am besten untersucht ist. So traf die Wirtschaftskrise 2008 die Automobilindustrie erst mit einiger Verzögerung. Besonders in Deutschland, wo die Abwrackprämie den Unternehmen Luft verschaffte. Parallel dazu gibt es aber in der gesamten Branche seit langer Zeit einen scharfen Kostenwettbewerb, der auch „ohne Krise zu Werksverlagerungen und Restrukturierungen führt“, sagt Axel Hauser-Ditz.

Hinzu kommen seit vielen Jahren bekannte Probleme, die die effektive Arbeit von EBR erschweren. Sprachprobleme, soziokulturelle Unterschiede, unterschiedliche Mitbestimmungstraditionen und -modelle sowie erhebliche organisatorische Probleme – für die beteiligten Gewerkschaften ebenso wie für die Gremien, die offiziell ohnehin nur ein- bis zweimal pro Jahr tagen, auch wenn sich die eigentliche Arbeitsebene, der Lenkungsausschuss, wesentlich öfter trifft. Und das alles vor dem Hintergrund eines rechtlichen Rahmens, der die Aufgabenzuteilung eines EBR auf Konsultation und Information beschränkt. So gesehen bestanden grundlegende Schwierigkeiten in der transnationalen Zusammenarbeit schon vor der Krise. „Durch die Krise sind die nationalen Egoismen allerdings wieder stärker geworden“, fasst Stefan Lücking, der in der Forschungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung die EBR-Projekte koordiniert, die Übereinstimmung der Forscher zusammen.

BEISPIELE, DIE DENNOCH SCHULE MACHEN

Gleichwohl täuschen die aktuellen Hiobsbotschaften darüber hinweg, dass EBRs auch erfolgreich arbeiten. Gerade wenn sie die rechtliche Einschränkung von Konsultation und Information sehr offensiv interpretieren. So zählten laut Luitpold Rampeltshammer bislang ausgerechnet die EBR von Ford und GM „zu den Leuchttürmen der EBR-Forschung“. Beide Gremien begnügten sich nicht mit der Information der Arbeitnehmer, sondern entwickelten sich zu einem „mitwirkenden Arbeitsgremium“ (Kotthoff) mit wegweisenden Vereinbarungen.

Im Jahr 2000 kam es auf Initiative des Ford-EBR zu einer Vereinbarung, die die Restrukturierung nach der Ausgliederung des Zulieferers Visteon genau regelte. Damit war ein Präzedenzfall geschaffen. Ähnlich forsch agierte der EBR bei GM Europa, der Einfluss darauf nahm, welche Produktionslose an welche Standorte vergeben wurden. „Da wurden Regelungen getroffen, die über die EBR-Richtlinie weit hinausgehen“, urteilt Hauser-Ditz. Allein bei Ford und GM Europa wurden bislang 20 transnationale Unternehmensvereinbarungen abgeschlossen. Allerdings sollte man hier die besondere Rolle als europäische Töchter von US-Mutterkonzernen beachten, die zeitweise sogar zu einer Solidarisierung zwischen europäischem Management und EBR gegen die eigene Konzernführung führte. Wie GM zeigt, hat das leider nicht lange getragen.

Gleichwohl folgt eine langsam wachsende Zahl von Unternehmen diesen Beispielen. Im Metallsektor ermittelte eine Forschergruppe um den Fuldaer Politikwissenschaftler Hans-Wolfgang Platzer 78 transnationale Vereinbarungen in 34 Unternehmen, darunter EADS, ArcelorMittal, BMW, VW, Daimler oder Electrolux. „Unsere Erhebung lässt den vorsichtigen Schluss zu, dass in etwa zwölf bis 15 Prozent der Unternehmen der europäischen Metallindustrie bereits förmliche transnationale Vereinbarungen abgeschlossen wurden“, schreiben die Forscher in einem gerade veröffentlichten Arbeitspapier der Hans-Böckler-Stiftung. Hinzu kommt eine in der EBR-Forschung erstmals ermittelte Zahl von nicht schriftlich fixierten Absprachen, wie eine Telefonerhebung von 82 EBR durch die Forschergruppe ergab. Danach gibt es immerhin in 26 Prozent der befragten EBR solche informellen Absprachen.

PRAKTISCHE ERFOLGSKRITERIEN

In den Vereinbarungen und Absprachen spielen Themen wie Restrukturierung, Personalfragen, interne Arbeitsbeziehungen, soziale und ethische Mindeststandards, Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie monetäre Fragen die Hauptrolle. Dass ein EBR sogar im Konflikt um Standortschließungen und Restrukturierung erfolgreich sein kann, zeigt das Beispiel Bosch. Der Automobilzulieferer wurde von der Wirtschaftskrise voll erwischt und rutschte zunächst in die roten Zahlen. „Binnen weniger Monate wollte man nach dem Werk im walisischen Cardiff auch das Werk im französischen Vénisseux schließen. Das war bei Bosch ein Art Kulturbruch“, erzählt Axel Hauser-Ditz. Also schritt der EBR in Zusammenarbeit mit dem Europäischen Metallarbeiternehmerdachverband (vormals EMB, jetzt industriAll) ein, organisierte Protesttage und forderte das Unternehmen auf, in einer gemeinsamen Kommission nach Produktalternativen zu suchen. Das Bosch-Management willigte ein. Nach einigen Verhandlungen wurde das Werk in Frankreich schließlich der Solarenergiesparte des Unternehmens zugeschlagen, im März 2012 startete dort die Produktion von Solarmodulen.

„Bosch zeigt, dass in den EBRs einiges möglich ist. Selbst bei Zulieferern, die unter noch schwierigeren Wettbewerbsbedingungen agieren als die Endhersteller“, so Hauser-Ditz. Dass die Geschichte bei Bosch leider kein Happy End nehmen sollte, konnte damals niemand ahnen. Vor wenigen Tagen kündigte das Unternehmen jetzt an, sich komplett aus dem Solargeschäft zurückzuziehen und das Werk in Frankreich zu verkaufen.

Dennoch: Die Beispiele zeigen, was möglich ist. Als Maßstab, wie „erfolgreich“ ein EBR ist, sollte jedoch nicht die reine Zahl der geschlossenen Vereinbarungen gelten, warnt Hermann Kotthoff. „Für mich ist der wichtigste Punkt, dass der EBR über möglichst viele wichtige Themen mit dem Management in Dialog steht und von diesem auch ernst genommen wird“, so der Soziologe. Inzwischen gebe es etliche Unternehmen, wo das Management gut auf den EBR zu sprechen sei. Grund: Die ursprüngliche Angst, dass jetzt „die südeuropäische, kampfbetonte Interessenvertretung die Oberhand gewinnt, ist nicht mehr da“, sagt der Forscher. Aber: Maximal ein Fünftel der EBR sei bislang wirklich anerkannt als Gesprächspartner.

VIER ARTEN VON SOLIDARITÄT

Und wie sieht es nun tatsächlich mit der internationalen Solidarität aus, gerade in Zeiten der Krise? Eine Forschergruppe um Hermann Kotthoff sucht derzeit nach Antworten bei Eurobetriebsräten, „wo es entgegen aller Unkenrufe dennoch klappt, transnational und kooperativ und solidarisch zusammenzuarbeiten“. Weil eine solche Untersuchung in der Breite schwierig sei, erstellten die Forscher eine „Bestenliste“ von vier EBR aus drei Branchen (Automobil, Lebensmittel, Chemie/Pharma) und mit jeweiligem Stammsitz in vier verschiedenen Ländern.

Die Forscher identifizierten vier Arten von Solidarität, die dazu führen, dass ein EBR erfolgreich agieren kann. Die wesentliche Bedingung ist die sogenannte Verbundenheitssolidarität: „Die EBR-Mitglieder müssen sich kennen, müssen ein Bier miteinander trinken, müssen sich auch mal zu Hause besuchen“, sagt Hermann Kotthoff. Das klingt banal, ist aber von Belang. Nicht nur, weil der EBR selten zusammentritt und es Sprachbarrieren gibt, sondern weil teilweise auch die Fluktuation in den Gremien Probleme schafft. „Je größer die soziale Verbundenheit im EBR, vor allem aber im Lenkungsausschuss ist, desto besser“, sagt der Soziologe.

Ein weiterer Aspekt ist das, was Kotthoff „utilitaristische Solidarität“ nennt. Danach müsse jeder im EBR vertretene Standort daran glauben, von der Zusammenarbeit zu profitieren. „Die Solidarität ist umso größer, je mehr ich davon überzeugt bin, dass ich gewinne, wenn ich mit den anderen kooperiere“, so Kotthoff. Ähnlich sieht das sein Kollege Hauser-Ditz: „Es gilt im EBR immer zu gucken, wo man gemeinsame Interessen haben könnte. Etwa indem man ein Ausspielen der Standorte durch eine selektive Informationspolitik des Managements verhindert. Hierzu braucht es eine gute Vernetzung der EBR-Mitglieder.“ Hinzu kommen als weitere Spielarten die sogenannte „Kampfsolidarität“, also gemeinsame Streiks und Massenproteste, sowie etwas, was die Forscher „Bürgersolidarität“ nennen. Gemeint ist damit eine solidarische Unterstützung des EBR als Institution, also alles, was die „Funktionsfähigkeit und effektive Organisation“ unterstützt.

Durch die anhaltende Krise steht die internationale Solidarität unter Arbeitnehmervertretern nun unter massivem Druck. Gleichzeitig hat dieser Druck aber auch zu einer „gewissen Aktivierung der Gremien geführt“, beobachtet Axel Hauser-Ditz. Viele Forscher mahnen deshalb trotz aller frustrierenden Rückschläge mehr Geduld mit der noch jungen Institution EBR an. „Mit der Einführung der EBR wurde europäische Solidarität erstmalig Realität. Da steckt eine Menge Potenzial dahinter, immerhin treffen sich jetzt rund 15 000 Arbeitnehmervertreter einmal, zweimal jährlich über alle europäischen Grenzen hinweg“, sagt Hermann Kotthoff.

Mehr Infromationen

Präsentationen und Vorträge der Veranstaltung „Europäische Betriebsräte“, die die Hans-Böckler-Stiftung in Kooperation mit dem DGB am 21. Februar in Berlin organisierte, sind online dokumentiert.

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