Quelle: HBS
Böckler ImpulsEinkommen: Deutsche kritisieren ungerechte Verteilung
In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben sich die Einkommen der Deutschen auseinanderentwickelt. Mehr als zwei Drittel der Bevölkerung finden das ungerecht.
Die Zahlen sind eindeutig: Im Jahr 1992 erzielten die zehn Prozent der Haushalte mit den höchsten Einkommen in Westdeutschland noch das 5,1-fache der Einkommen des untersten Zehntels. 2010 erhielten sie das 6,8-fache. In Ostdeutschland erhöhte sich die Relation von 3,8 auf 5,1. Gehörte die Bundesrepublik laut OECD in den 1980ern und 1990ern noch zu den Ländern mit eher geringer Ungleichheit, liegt sie heute im europäischen Mittel. Andere Industrienationen, allen voran die USA, sind zwar weitaus ungleicher. Dennoch sieht „eine überwältigende Mehrheit der Deutschen die Einkommensunterschiede hierzulande kritisch“, haben Heinz-Herbert Noll und Stefan Weick vom Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften ermittelt. Daten aus der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften in Deutschland zeigen, dass im Westen 2010 rund 87 Prozent der Befragten die Unterschiede für „zu groß“ hielten. Im Osten war es mit 96 Prozent nahezu die gesamte Bevölkerung.
Gerade in Westdeutschland stellen die Forscher einen markanten Sinneswandel fest: 2004 pflichteten lediglich 40 Prozent der Aussage bei, jeder solle ein Einkommen haben, das „er mit seiner Familie für ein anständiges Leben braucht“. Im Jahr 2010 wollten 58 Prozent Einkommen nicht ausschließlich an der Leistung des Einzelnen bemessen sehen. Auch 56 Prozent der ostdeutschen Befragten stimmten dem zu, nach 49 Prozent sechs Jahre zuvor. Die Wissenschaftler vermuten, dass „die anhaltende Mindestlohndebatte und die beachtliche Ausweitung von Niedriglohnbeschäftigungen“ zu dem Sinneswandel der Deutschen beigetragen haben.
Dabei stellt die Mehrheit der Bürger nicht Leistungsanreize per se in Frage: Der Aussage „nur wenn die Unterschiede im Einkommen und sozialen Ansehen groß genug sind, gibt es auch einen Anreiz für persönliche Leistung“ stimmten 2010 immerhin 60 Prozent der Befragten zu. Die realen „sozialen Unterschiede in unserem Land“ finden jedoch nur noch 28 Prozent gerecht. Auch hier machen Weick und Noll im Westen einen klaren Trend zu einer kritischeren Beurteilung aus: Im Jahr 2000 meinten noch 48 Prozent, es gehe gerecht zu. Zehn Jahre später sind es nur noch 30 Prozent. Nach Einschätzung der Forscher könnte eine zunehmende Sensibilisierung der Öffentlichkeit infolge der Finanzkrise dazu geführt haben, dass soziale Unterschiede anders wahrgenommen werden. Managergehälter und Bonuszahlungen würden nun als ungerechtfertigte Privilegien von Eliten angesehen.
Heinz-Herbert Noll, Stefan Weick: Nicht einmal jeder Dritte empfindet soziale Unterschiede in Deutschland als gerecht (pdf), in: Informationsdienst Soziale Indikatoren (ISI) 48, Juli 2012.