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Magazin Mitbestimmung

Interview: „Das sind klassische Agenda-Maßnahmen“

Ausgabe 09/2012

Erst lässt man die Verluste der Finanzkrise von den kleinen Leuten bezahlen, dann nimmt man den Menschen auch noch die Rechte – Michael Sommer über fundamentale Gerechtigkeitsdefizite in der Eurokrise.

Michael Sommer, wir erleben in Südeuropa Verarmung und radikale Einschnitte in Arbeitnehmerrechte. Der DGB zeigt sich solidarisch mit den Krisenländern, aber ist Griechenland mit dem Verbleib im Euro wirklich gedient?
Was denn sonst? Was wäre sowohl für Griechenland als auch für die Eurozone die vernünftige Alternative dazu? Es gibt keine.
 
Der Ökonom Paul Krugman hat vorgeschlagen, Griechenland bankrott gehen zu lassen und die Finanzmittel lieber zu nutzen, um Spanien und Italien zu retten.

Das wäre der Anfang vom Ende der europäischen Integration, politisch und ökonomisch. Und für Griechenland wäre diese Rezeptur menschlich eine Katastrophe und ökonomisch ein Desaster. Was würde aus der griechischen Binnenwirtschaft angesichts der von der Troika verordneten Massenarmut? Und ob die Wiedereinführung der Drachme die griechische Wirtschaft auf dem Weltmarkt wirklich konkurrenzfähiger machen würde, ist reine Spekulation. Mit welchen Gütern und Dienstleistungen wollen sich die Griechen denn im globalen Wettbewerb behaupten?
 
Kalamata-Oliven, Feta-Käse, Weintrauben ...
Die kaufen wir schon. Aber das wird nicht reichen.
 
Urlaub machen ...
Tourismus bietet tatsächlich Potenziale, aber kann Griechenland wirklich mit der staatlich subventionierten Tourismusindustrie der Türkei konkurrieren? Was Griechenland im Falle eines Austritts aus der Eurozone aber weiter bedienen müsste, wären die Staatsanleihen. Und die sind nun mal in Euro ausgegeben worden und müssten auch in Euro zurückgezahlt werden – zu den jeweils aktuellen Wechselkursen.
 
Aber bankrott heißt doch eigentlich, dass man seine Schulden nicht mehr zurückzahlt.

Argentinien hat das ja einmal gemacht. Sie haben das mit acht Jahren Sozialabbau bezahlt. Sie waren wirtschaftlich total isoliert. Die anschließende Erholung hat mit Sonderfaktoren zu tun, die auf Griechenland nicht zutreffen. Argentinien hat beispielsweise wichtige Rohstoffvorkommen und vor allen Dingen einen äußerst konkurrenzfähigen Agrarsektor.
 
Und was würde nach Ansicht des DGB der Austritt Griechenlands für die gesamte Eurozone bedeuten?
Ökonomen sagen, die griechische Wirtschaft mache ja nur drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts des Euroraums aus, ein Austritt müsse also verkraftbar sein. Das Argument gilt vor allem umgekehrt, denn auch größenmäßig ist der Verbleib Griechenlands in der Eurozone verkraftbar. Im Übrigen ist die Welt komplizierter, als sie sich in ökonometrischen Modellen darstellen lässt. Wenn Griechenland aussteigt und die Investoren weiter spekulieren, wer ist dann als Nächstes dran? Portugal? Irland? Spanien? Italien?
 
Also muss Deutschland fleißig weiter Geld überweisen. Aber wie lange? Bis die Finanzmärkte zufrieden sind?
Nein. Gerade nicht. Ich habe mal der Bundeskanzlerin die Frage gestellt, wie viel sie denn noch zahlen wolle, was sie denn glaube, wann die Märkte satt sind. Ich glaube, die werden nie satt sein und erst aufhören, sich alles einzuverleiben, wenn sie nichts mehr kriegen. Die Frage ist nun, wie man den Prozess für Griechenland so gestaltet, dass er für die Menschen einigermaßen erträglich ist und sie Licht am Ende des Tunnels sehen. Derzeit gibt es für die Griechen ja keinerlei Perspektive.
 
In Spanien werden Entlassungen für die Unternehmen billiger, in Italien schraubt die Regierung am Kündigungsschutz herum – das genaue Gegenteil des viel beschworenen europäischen Sozialmodells. Was sind das denn für Reformen, die uns als Wettbewerbs- und Wachstumspolitik verkauft werden?
Das sind klassische Agenda-Maßnahmen. Diese Art von Politik haben wir in Deutschland schon hinter uns – nicht in der Brutalität, aber in der Art und Weise. Was heute in Deutschland als arbeitsmarktpolitischer Erfolg gefeiert wird, ist ja teuer bezahlt. Prekäre Beschäftigung und Armutslöhne haben in Deutschland massiv zugenommen. Das ist und bleibt unerträglich.
 
Werden die Hartz-Reformen trotzdem zum neuen deutschen Exportschlager?
Es sieht leider so aus. In Spanien etwa werden sogenannte Beschäftigungshemmnisse für junge Menschen abgeschafft. Die Konsequenz ist: Wenn die Jüngeren überhaupt Arbeit finden, finden sie die nur zu deutlich schlechteren Bedingungen als die Älteren. Diesen Mechanismus kenne ich. Den habe ich hier in Deutschland zehn Jahre lang miterlebt.
 
Was wären denn echte Reformen anstatt dieser Troika-Rezepte?
Es ist ja nicht so, dass sich die Gewerkschaften Reformen verschließen würden. Natürlich gibt es Reformbedarf, den gab es auch in Deutschland. Die Frage ist aber, ob die Reformen sozial gerecht und mit den Betroffenen zusammen erarbeitet und umgesetzt werden. Das Problem in Spanien ist, dass genau das nicht passiert. Im Juli war ich mit meinen beiden spanischen Gewerkschaftskollegen von der Unión General de Trabajadores und den Comisiones Obreras zu einem Gespräch bei der Kanzlerin .
 
Offenbar wissen die spanischen Kollegen, wo man heutzutage in Europa hingehen muss.
Bei ihrem eigenen Regierungschef haben sie ja keinen Termin bekommen. Erst nach dem Treffen mit der Kanzlerin hat sich das geändert, da hat Mariano Rajoy sie dann empfangen. Mit der sozialistischen Vorgängerregierung von Zapatero existierte ein Vertrag zum Reformprozess. Den hat Rajoy einseitig aufgekündigt. Kein Wunder, dass die spanischen Kollegen wütend sind und das Gefühl haben, es solle nur Politik gegen sie gemacht werden. Sie werden nicht einmal gefragt, und natürlich gehen sie dann auf die Straße.
 
Haben es nicht einige Länder und deren Gewerkschaften versäumt, mehr für die Wettbewerbsfähigkeit ihrer Wirtschaft zu tun?
Es hat offensichtlich Versäumnisse gegeben, in der Wirtschaftspolitik ebenso wie in den Unternehmen. In Spanien zum Beispiel ist viel zu viel Geld in die Immobilienblase gepumpt worden, statt in Zukunftsbranchen zu investieren.
 
Wie immer man die Hartz-Reformen einschätzt, Deutschland steht heute ganz gut da.
Die Hartz-Gesetze waren purer Sozialabbau, und damit löst man keine Probleme. Deutschland steht heute besser da, weil wir die tiefe Wirtschaftskrise 2008 ganz anders gelöst haben, und nicht wegen der Agenda 2010. In der Krise gab es einen gemeinsamen Geist, die Probleme anzupacken und gemeinsam zu lösen – mit Kurzarbeit, Arbeitszeitmodellen und Konjunkturprogrammen. Nichts von dem, was wir jetzt anderen verordnen, haben wir 2008 in Deutschland gemacht. Was diesen Ländern jetzt übergestülpt wird, ist ein neoliberales Konzept: Reagan und Thatcher pur.
 
Folgt europäische Politik der Logik: Wir senden Signale aus, von denen wir glauben, dass dies die Finanzmärkte erwarten?
So ist es. Die Politik sucht sich die schwächeren Opfer, weil sie sich nicht an die Finanzmärkte herantraut. Und weil sie sich nicht in der Lage sieht, den Primat der Politik gegenüber dem Finanzkapital durchzusetzen, übernimmt sie dessen Rezepte. Formuliert hat dies kürzlich der marktliberale Ex-Wirtschafts- und -Arbeitsminister Clement: Er sagte, man müsse die Arbeitnehmerrechte nur weiter schleifen, dann würden die Märkte schon zufrieden sein. Seltsame Töne eines ehemaligen stellvertretenden SPD-Parteivorsitzenden.
 
Wird die Krisendramatik geschürt – für marktliberale Politik?
Die Finanzkrise wurde strategisch dazu genutzt, die Verluste der Finanzindustrie von den kleinen Leuten bezahlen zu lassen. In der zweiten Phase der Eurokrise nimmt man den Menschen nach dem Geld nun auch noch ihre Rechte. Wir erleben einen beispiellosen Angriff auf die Arbeitnehmerrechte im Süden Europas.
 
Es gab durchaus Ansätze, auch den Finanzsektor neu zu ordnen. Die Gruppe der G20 hat sich auf weitgehende Reformen geeinigt.

Ich empfehle jedem, sich die Beschlüsse des G20-Gipfels in London vom April 2009 anzuschauen. Da ist alles beschrieben, was man machen müsste, um die Finanzmärkte in den Griff zu bekommen. Umgesetzt wurde fast nichts. Da war von einer Finanztransaktionssteuer die Rede, vom Verbot giftiger Finanzprodukte, von der Regulierung der Ratingagenturen und so weiter. Aber außer der stärkeren Eigenkapitalbasis der Banken ist von diesem Gipfel nichts übrig geblieben. Das werfe ich auch der deutschen Politik vor.
 
Damals regierte noch die Große Koalition. Vielleicht ist die Politik schlichtweg überfordert oder zu kraftlos, um auch rasch zu handeln?
Die schaffen es, in einem halben Jahr die Wehrpflicht abzuschaffen oder mit dem Fiskalpakt die EU-Verträge auszuhebeln – aber die Finanzmärkte können sie nicht regulieren? Das nehme ich der Politik nicht ab.
 
Sicher, bei der Energiewende ging es ja auch. Hat die Politik Angst, dass schon ein falsches Wort zu neuen Irritationen der Märkte führen könnte?

Es fehlt an Entschlossenheit. Dass es geht, zeigt François Hollande in Frankreich. Natürlich wird ihm entgegengehalten, dieses oder jenes werde nicht funktionieren. Aber er handelt wenigstens. Nun müssen diejenigen, die am meisten von den Finanzgeschäften profitieren, die USA und Großbritannien, gezwungen werden, ebenfalls mitzumachen. Aber beide sind dazu offensichtlich nicht bereit.
 
Die Verschuldung und damit die Abhängigkeit der Staaten ist nicht wegzudiskutieren. Und das Bankensystem kämpft immer noch mit den Folgen der Finanzkrise.

Dabei werden der Finanzindustrie Riesengeschenke gemacht und Volkseinkommen verschleudert. Die EZB leiht den Banken eine Billion Euro zu einem Zinssatz von einem Prozent. Die gleichen Banken verleihen das Geld dann weiter mit Zinsen von vier, fünf oder sechs Prozent. Das alles ohne Gegenleistung. In den 70er Jahren haben wir als Studenten darüber diskutiert, ob sich das Monopolkapital den Staat einverleibt habe. Damals konnte sich keiner von uns im Traum vorstellen, dass Finanzspekulanten Regierungen vor sich hertreiben und erfolgreich erpressen.
 
So gesehen ist die Krise für die Banken ein schönes Geschäftsmodell. Wie lange wird das denn gut gehen?
Dieses Modell ist inhuman und systemsprengend. Letztlich ist es für den Kapitalismus selbst existenzbedrohend und für die Realwirtschaft allemal. Aber das ist nicht die Politik der deutschen Gewerkschaften. Wir wollen im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer das System der Sozialen Marktwirtschaft stabilisieren. Wir können doch gar kein Interesse daran haben, dass das System implodiert. Wir müssen das System so reformieren, dass es wieder stabil wird und seine soziale Ausgestaltung behält.
 
Wie soll die Gerechtigkeit in der Wirtschafts- und Währungskrise aussehen, die der DGB fordert?

Wir brauchen eine Doppelstrategie. Zum einen muss die Wirtschaft wieder in Gang gebracht werden. Da hilft nur ein groß angelegtes Programm, ein europäischer Marshallplan. Zudem brauchen wir wirkliche Strukturreformen: Der Finanzmarkt muss reguliert, die Staatlichkeit muss wiederhergestellt werden, ebenso die Steuergerechtigkeit. Auch muss die Kapitalflucht eingedämmt werden. Wir wollen die Verursacher an den Kosten der Krise beteiligen – über eine Finanztransaktionssteuer und eine Pflichtanleihe für große Vermögen. Das sind die Maßnahmen, die Europa bräuchte.
 
Wäre da nicht mehr gewerkschaftliche Fundamentalkritik gegenüber einem Finanzmarktkapitalismus angesagt, der demokratische Politik zunehmend schachmatt setzt?
Die Gewerkschaften beziehen Stellung gegen die Herrschaft des Finanzkapitals. Wenn wir – überparteilich – die Interessen der Arbeitnehmerschaft vertreten, engagieren wir uns für die Schaffung eines Finanzsektors, der der Realwirtschaft dient. Aber wir müssen uns auch über unsere Rolle im Klaren sein. Wir sind die Organisation der Arbeit, das ist unser Kerngeschäft. Wir sind keine politische Partei, und wir sind auch nicht Attac.
 
Der Soziologe Wolfgang Streeck meint, die Kräfteverhältnisse hätten sich umgekehrt: Heute steuert in Europa nicht mehr der Staat die Märkte, sondern die Märkte steuern die Politik. Ließe sich das drehen?
Nur wenn die Politik wieder ihren Führungsanspruch formuliert. Momentan tut sie das nicht. Wir erleben derzeit ein Politikversagen auf allen Ebenen. Ein deutscher Bundestag, der sich wiederholt vom Bundesverfassungsgericht bescheinigen lassen muss, dass er seine Rechte nicht wahrnimmt, ist genauso ein Trauerspiel wie ein Europäisches Parlament, das seine Führungsrolle nicht einfordert. Währenddessen zementieren die EU-Staats- und -Regierungschefs mit dem Fiskalpakt die Diktatur der Märkte.
 
Aber hinter den Regierungschefs steht doch das Parlament. Und demokratische Wahlen.
Die Grundlagen der Gewaltenteilung sind einigen Leuten offenbar nicht mehr präsent. Sie meinen, für die Kontrolle der Regierung sei die Opposition und nicht das Parlament als Ganzes zuständig. Zunehmend werden die Parlamente von der jeweiligen Regierung als Mehrheitsbeschaffer missbraucht, und die Parlamente lassen sich das gefallen.
 
Warum hat der DGB ernsthaft erwogen, sich der Bundesverfassungsgerichtsklage gegen den Fiskalpakt anzuschließen?

Im Kern geht es uns um die Zukunft von Demokratie und Sozialstaat. Wegen der Staatsschulden wird immer argumentiert, wir würden uns an der Zukunft unserer Kinder vergreifen. Deren Zukunft würden die Strukturen, die der Fiskalpakt schafft, viel nachhaltiger verschlechtern. Die Folgen dieser Politik liegen klar auf der Hand: weniger Staat, Sozialabbau, schlechtere Schulen. Darüber hinaus rührt der Vertrag auch an die Grundfesten der Demokratie. Was würde es heißen, wenn eine Regierung das Parlament durch den Ewigkeitscharakter des Vertrags quasi aushebelt? Was bedeutet es für Europa, wenn einige Regierungschefs allein bestimmen und nicht mehr Rat, Parlament und Kommission gemeinsam entscheiden? Was heißt das für die Zukunft der Demokratie, der Staatlichkeit und des europäischen Gedankens?
 
Wie könnte eine demokratische Alternative aussehen?
Ich hoffe sehr, dass das Bundesverfassungsgericht klarmacht, dass man kein Europa-Feind ist, wenn man das Budgetrecht des Parlaments einfordert. Es darf doch nicht sein, dass eine kleine Gruppe von Spitzenpolitikern über Europa herrscht und sich dafür von den Finanzmärkten die Rezepte ausstellen lässt. Immer wenn die Rechte des Bundestages aufgrund der Europapolitik schwinden, muss das Europäische Parlament diese Rechte hinzugewinnen. Ich hoffe, dass in diesem Urteil deutlich wird: Es muss immer eine parlamentarische Kontrolle geben, sei es auf der nationalstaatlichen oder europäischen Ebene.

Mit dem DGB-Vorsitzenden Michael Sommer sprachen in Berlin die Redakteure Cornelia Girndt und Andreas Kraft / Foto: Peter Himsel 

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