Quelle: HBS
Böckler ImpulsEuropa: Arbeitnehmerschutz: Abbau im Windschatten der Krise
Mit der Eurokrise wird derzeit in zahlreichen EU-Ländern die Deregulierung des Arbeitsmarkts begründet. Viele Neuregelungen erhöhen die Unsicherheit für Arbeitnehmer, an manchen waren die nationalen Parlamente kaum beteiligt.
Bei etlichen Politikern und der EU-Kommission ist die Idee populär: Um mit den Folgen der Finanzkrise fertig zu werden, sollen Unternehmen freier agieren können. Das geschehe flächendeckend durch Deregulierung zu Lasten der Beschäftigten, konstatieren Stefan Clauwaert und Isabelle Schömann vom European Trade Union Institute (ETUI), die aktuelle Arbeitsrechts-Reformen in den EU-Mitgliedstaaten untersucht haben. Dabei gebe es gar keine Hinweise, dass bislang gültige Arbeitnehmer-Rechte eine Ursache der Probleme seien, so die beiden Rechtswissenschaftler. Die Politik stelle dennoch das Konzept der guten Arbeit infrage und untergrabe das Europäische Sozialmodell: „Es gibt klare Belege für die "Dekonstruktion" des Arbeitsrechts unter dem Deckmantel der Wirtschaftskrise“, stellen die Forscher fest.
Atypische Beschäftigung ausgeweitet: Trotz einer EU-Richtlinie, die den Missbrauch befristeter Verträge eindämmen soll, beobachten die Rechtswissenschaftler einen europaweiten Trend zur Ausweitung befristeter Beschäftigung. Beispielsweise kann in Tschechien ein Arbeitgeber einen Arbeitnehmer mittlerweile neun Jahre lang mit immer neuen Befristungen beschäftigen. Portugal hat befristete Verträge mit bis zu drei Jahren Laufzeit erlaubt. Bislang lag die Obergrenze bei sechs Monaten. Zudem beobachten die Forscher neue Vertragsformen, die den Beschäftigten weniger Schutz bieten. Als typisches Beispiel nennen die Autoren die Einführung einer neuen Beschäftigungsform für unter 25-Jährige in Griechenland: Sie bekommen 20 Prozent weniger Lohn als bislang üblich, haben eine Probezeit von zwei Jahren, die Arbeitgeber müssen keine Sozialversicherung zahlen und die Jugendlichen haben keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld, wenn der Vertrag ausläuft. Spanien hat spezielle Ausbildungsverträge für 25- bis 30-Jährige eingeführt, die Arbeitgeber weitgehend von Sozialabgaben befreien – auch wenn sie den Beschäftigten später mit einem regulären Vertrag anstellen.
Kündigungsschutz aufgeweicht: In Estland, Tschechien, Portugal, Spanien, der Slowakei, Großbritannien, Rumänien und Griechenland können Unternehmen mittlerweile leichter betriebsbedingt kündigen, schreiben die Forscher. Die für Entlassungen nötigen wirtschaftlichen Gründe wurden umdefiniert oder bestehende Schranken abgesenkt. Zudem seien die Abläufe für die Unternehmen vereinfacht worden: In Litauen, Estland, Bulgarien, der Slowakei, Spanien, Portugal und Großbritannien sind die Kündigungsfristen nun deutlich kürzer. In Spanien können Arbeitgeber bei Kündigungen leichter den Betriebsrat umgehen. In Rumänien und Großbritannien wurde die Pflicht des Unternehmens minimiert, einen Sozialplan aufzustellen. Auch müssen Arbeitgeber in Tschechien, Spanien und Portugal nun niedrigere Abfindungen zahlen als vor der Krise. Die Forscher sehen diese Flexibilisierung kritisch: „Sie wird auf dem Arbeitsmarkt mehr (Langzeit-)Arbeitslosigkeit und mehr Prekarität zur Folge haben.“
Längere Arbeitszeiten erleichtert: Etliche Länder haben die Obergrenzen für Überstunden heraufgesetzt. In Ungarn sind beispielsweise nun 250 Überstunden im Jahr erlaubt statt wie bisher 200. Litauen hat das generelle Verbot von Überstunden abgeschafft. In Portugal müssen die Beschäftigten künftig auf die Hälfte der Zuschläge verzichten. Clauwaert und Schömann weisen darauf hin, dass überlange Arbeitszeiten ein Sicherheits- und Gesundheitsrisiko sind.
Tarifsystem geschwächt: Die Forscher machen zudem eine klare Tendenz aus, Tarifverhandlungen zu dezentralisieren: Statt Flächentarifverträgen soll es mehr Haustarifverträge geben. Beispiele seien in Italien, Griechenland, Portugal und Spanien zu finden. Zudem können betriebliche oder regionale Tarifverträge mittlerweile Mindeststandards unterlaufen, die in Flächentarifen oder gar Gesetzen definiert wurden. Das gilt für Frankreich, Griechenland, Italien und die Slowakei. Die beiden Forscher sind sich sicher, dass diese Reformen die Stellung der Gewerkschaften insgesamt schwächen werden.
Parlamentsrechte geschwächt: Estland, Ungarn und die Slowakei beschlossen einen Teil dieser Reformen per Notverordnungen. Zudem mussten sich Portugal und Griechenland in ihren Vereinbarungen mit der Troika zu Arbeitsmarktreformen verpflichten, ohne dass während der Verhandlungen die nationalen Parlamente oder das EU-Parlament konsultiert wurden. Einige Neuregelungen verstoßen laut Clauwaert und Schömann darüber hinaus gegen grundlegende Prinzipien des Arbeitsrechts wie die Koalitionsfreiheit oder die Gleichstellung. Insgesamt sei die Legitimation der Reformen fraglich, weil die neuen Gesetze „grundlegende Rechte und Freiheiten auf europäischer Ebene“ verletzen.
Stefan Clauwaert, Isabelle Schömann: The crisis and national labour law reform: a mapping exercise, ETUI Working Paper 4/2012