Quelle: HBS
Böckler ImpulsEuropa: Ungleichgewichte versperren Weg aus der Eurokrise
Deutschland ist für den rasanten Anstieg der Auslandsverschuldung von Griechenland, Portugal, Spanien und Italien mit verantwortlich. Ohne eine stärkere Koordination der Wirtschaftspolitik bleibt die Stabilität des Euroraums bedroht.
Aufgrund des wirtschaftlichen Einbruchs nach der Finanzkrise ist die Staatsverschuldung in ganz Euroland stark gestiegen. Die südeuropäischen Krisenländer haben nach wie vor Schwierigkeiten, für ihre Staatsanleihen zu tragbaren Zinsen private Investoren zu gewinnen. Die hohe Verschuldung der Staaten ist dabei aber nur ein Krisensymptom. Wesentliche Ursache der Krise ist die unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung in den Mitgliedsländern seit Einführung der Gemeinschaftswährung, zeigt eine Untersuchung von Heike Joebges und Camille Logeay. Die beiden Professorinnen an der Berliner Hochschule für Technik und Wirtschaft haben die Veränderungen bei Warenströmen und Schuldenständen eingehend untersucht. Ihr Fazit: Ohne einen Beitrag Deutschlands werden die Südeuropäer ihre Probleme nicht überwinden können. Denn ein Teil des exportgetriebenen deutschen Wirtschaftsmodells mit seinen hohen Leistungsbilanzüberschüssen wäre ohne die Defizite schwächerer Partner in der Währungsunion nicht möglich gewesen.
Um die Zusammenhänge zu verdeutlichen, haben die beiden Wirtschaftsforscherinnen analysiert, wie sich die Leistungsbilanzen in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt haben. Der Beginn der Währungsunion stellt dabei eine deutliche Zäsur dar: Zwar wies Deutschland schon seit den 1970er-Jahren eher Überschüsse auf. Aufwertungen der D-Mark gegenüber den Währungen der wichtigsten Handelspartner hätten bis dahin jedoch immer zu große Überschüsse korrigiert, so die Wissenschaftlerinnen. Mit dem Start des Euro fiel dieses Korrektiv weg, die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse stiegen stetig – bis zur Finanzkrise.
„Für das gesamtwirtschaftliche Wachstum sind die Nettoexporte, also die Differenz aus Exporten und Importen, relevant“, erläutern die Expertinnen. Seit der Euro-Einführung bis zum Beginn der Finanzkrise entfiel rund die Hälfte des deutschen Wachstums auf den Außenbeitrag. Das war ein deutlich höherer Anteil als in anderen großen europäischen Ländern. „Und dieser Wachstumsbeitrag stammte ab 2005 überproportional aus dem Handel mit Ländern des Euroraums“, betonen die Ökonominnen. Zwar stiegen Deutschlands Exporte in den Rest der Welt – besonders nach Osteuropa und Asien – noch stärker als diejenigen in andere Euroländer. Doch gleichzeitig nahmen auch die Importe aus Ländern außerhalb des Euroraums stärker zu. Im Außenhandel mit China ergibt sich für Deutschland deshalb sogar ein Leistungsbilanzdefizit.
Viele Euroländer gerieten hingegen gegenüber der Bundesrepublik immer tiefer ins Minus. Spiegelbildlich zu den insgesamt steigenden Leistungsbilanzüberschüssen Deutschlands bauten die Südeuropäer Leistungsbilanzdefizite auf: Sie kauften mehr deutsche Waren und Dienstleistungen, als sie nach Deutschland exportieren konnten. Ihre Einkäufe mussten sie über Kredite aus dem Ausland finanzieren. Permanente Leistungsbilanzdefizite führten so in Ländern wie Portugal oder Italien zu stetiger Nettokreditaufnahme und damit zunehmender Nettoverschuldung gegenüber Staaten wie Deutschland. Ausländische Gläubiger sind bei einem derart steigenden Schuldenstand immer weniger geneigt, den Haushalten, Unternehmen oder der Regierung eines Defizitlandes weitere Kredite zu geben; vor allem, wenn in der Zukunft ebenfalls keine Korrekturen der Leistungsbilanz zu erwarten sind. Sichtbares Zeichen dafür: steigende Risikoprämien, also höhere Zinsen.
Krisenländer leiden unter stetig wachsenden Verbindlichkeiten gegenüber dem Ausland
Logeay und Joebges stellen die aufsummierten Leistungsbilanzsalden der Vergangenheit dem jeweiligen Nettoauslandsvermögen der Staaten gegenüber. Auch wenn die Größen wegen verschiedener Erfassungsprobleme nicht hundertprozentig übereinstimmen, „lässt sich der Zusammenhang von kumulativen Leistungsbilanzdefiziten und Nettoschuldnerposition gut erkennen“, erläutern die Autorinnen: So stieg bis zur Krise in Griechenland die Nettoverschuldung von Konsumenten, Unternehmen und Staat gegenüber dem Ausland von 32 Prozent des Bruttoinlandsprodukts im Jahr 1999 auf 101 Prozent im Jahr 2007. In Portugal wuchs die Quote von 29 auf 96 Prozent, in Spanien von 35 auf 84 Prozent und in Italien von 13 auf 27 Prozent. Ganz anders hierzulande: Deutschland hat bis 2007 seine Gläubigerposition gegenüber dem Rest der Welt ausgebaut: von 4 Prozent des Bruttoinlandsprodukts auf 29 Prozent.
Ihre hohen Handelsüberschüsse gegenüber den Südeuropäern erzielte die Bundesrepublik nicht allein aufgrund der überragenden Qualität ihrer Produkte, betonen die Professorinnen. „Das mag für einzelne Branchen wie etwa den Maschinen- oder Anlagenbau durchaus zutreffen.“ Damit lasse sich aber lediglich die vergleichsweise hohe Stabilität deutscher Exporte während konjunktureller Nachfrageschwankungen erklären, nicht jedoch der starke Anstieg der Ausfuhren seit dem Jahrtausendwechsel. Auch die Produktpalette deutscher Aus- und Einfuhren habe sich kaum verändert. Stattdessen habe die Lohn- und Einkommensentwicklung in Deutschland eine wesentliche Rolle gespielt, schließen Logeay und Joebges.
Angesichts der gemeinsamen Währung sind für die preisliche Wettbewerbsfähigkeit die Relationen der nominalen Lohnstückkosten der Mitgliedsländer maßgeblich: In Staaten wie Griechenland und Spanien stiegen die Lohnstückkosten bis zur Finanzkrise um 17 bis 28 Prozent, in Deutschland stagnierten sie. Damit verloren die Handelspartner der Bundesrepublik zunehmend an Wettbewerbsfähigkeit. Die Stagnation der Lohnstückkosten lasse sich nicht auf einen übermäßigen Anstieg der Arbeitsproduktivität zurückführen, so die Forscherinnen, sondern vor allem auf die geringen Zuwächse bei den Effektivlöhnen. Der deutsche Export sei dadurch beflügelt worden. Doch beeinträchtigte die schwache Lohnentwicklung die Binnenwirtschaft über gleich zwei Kanäle: Sie dämpfte die Konsumbereitschaft der privaten Haushalte – und sie sorgte über eine unterdurchschnittliche Preisentwicklung für vergleichsweise hohe Realzinsen.
Wegen seiner stabileren wirtschaftlichen Entwicklung gilt Deutschland nun als Musterknabe Eurolands. „Doch die vermeintlichen Stärken sind genau die Schwächen, die bis zur Finanzkrise zu den Ungleichgewichten im Euroraum beigetragen haben“, warnen die Wissenschaftlerinnen. Und die wirtschaftspolitische Ausrichtung habe sich seitdem nicht sonderlich verändert: „Deutschland konzentriert sich weiterhin auf seine preisliche Wettbewerbsfähigkeit und den Außenhandel als Wachstumsmotor.“ Dabei verfüge die deutsche Wirtschaft nach Jahren mit schwachen Zuwächsen bei den Lohnstückkosten über einen großen „Wettbewerbspuffer“. Damit die Defizitländer eine reelle Chance haben, ihre Wettbewerbsposition zu verbessern, müssten die deutschen Lohnsteigerungen über dem Durchschnittswert des Euroraums liegen, empfehlen Logeay und Joebges.
Zusätzlich könnte eine stärkere Koordinierung der Wirtschaftspolitik im Euroraum die wirtschaftliche Auseinanderentwicklung seiner Mitgliedstaaten bekämpfen helfen. Hier sei die europäische Ebene mit dem erneuerten Euro-Stabilitätspakt allerdings noch zu zögerlich, kritisieren die Autorinnen: Alarmsignale werden erst dann ausgelöst, wenn Leistungsbilanzüberschüsse mehr als sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts betragen. Der Schwellenwert für Defizite hingegen liegt bei vier Prozent. Problematisch daran sei nicht nur die Ungleichbehandlung von Überschüssen und Defiziten. Auch werde nicht nach Defiziten und Überschüssen gegenüber den Euroländern und anderen Handelspartnern unterschieden. So könne es in der Währungsgemeinschaft bedeutsame bilanzielle Ungleichgewichte geben, ohne dass der Schwellenwert verletzt wird – weil etwa ein Defizit gegenüber China den Überschuss gegenüber Spanien verschleiert.
Heike Joebges, Camille Logeay: Deutschlands Anteil an Stabilitätsproblemen im Euroraum, in: Thomas Sauer (Hrsg.): Die Zukunft der Europäischen Währungsunion: Kritische Analysen, im Erscheinen