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HBS Böckler Impuls

Hartz IV: Fehldiagnose Anreizmangel

Ausgabe 09/2011

Die vierte Hartz-Reform sollte arbeitsfähigen Bedürftigen schneller neue Jobs verschaffen. Eine statistische Auswertung zeigt: Das hat nicht funktioniert.

Hinter der Hartz-IV-Reform stand die Vorstellung von der "Armutsfalle": Arbeitslose ließen sich durch Transferleistungen dazu verleiten, ihre Bemühungen um einen neuen Job schleifen zu lassen und deshalb länger im Leistungsbezug verbleiben als nötig. Sonja Fehr vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und Georg Vobruba, Professor für Sozialpolitik an der Universität Leipzig, haben dieses Theorem empirisch überprüft - indem sie die Dauer der Arbeitslosigkeit von Sozialleistungsempfängern vor und nach der Hartz-IV-Reform verglichen haben.* Nach der gängigen ökonomischen Logik wäre zu erwarten gewesen, dass erwerbsfähige Hilfsbedürftige vor der Reform relativ lange von Arbeitslosen- oder Sozialhilfe gelebt haben. Nachdem die Transferleistungen für viele gekürzt, auch schlecht bezahlte Jobs für zumutbar erklärt und Sanktionen für die Ablehnung eines Stellenangebots verschärft wurden, hätte die durchschnittliche Verweildauer in der Grundsicherung zurückgehen müssen. Dies ist jedoch nicht geschehen. "Die Hartz-IV-Reform hat keine deutliche Verkürzung der Arbeitslosigkeitsepisoden gebracht", lautet das Fazit der Wissenschaftler.

Fehr und Vobruba stützen sich auf Daten des Sozio-oekonomischen Panels, einer jährlichen repräsentativen Haushaltsbefragung. Sie betrachten ausschließlich Arbeitslose, die im Beobachtungszeitraum Sozial- oder Arbeitslosenhilfe beziehungsweise Arbeitslosengeld II (ALG II) bekamen. Hilfsbedürftige, die dem Arbeitsmarkt etwa wegen Betreuungsaufgaben nicht zur Verfügung standen, oder so genannte Aufstocker bleiben außen vor. Zwar ist die Gruppe der erwerbsfähigen Sozialhilfe- und Arbeitslosenhilfeempfänger vor der Hartz-IV-Reform nicht identisch mit der Gruppe der späteren ALG-II-Bezieher - vor allem weil rund 17 Prozent der Arbeitslosenhilfe-Haushalte wegen verschärfter Vorschriften zur Anrechnung von Vermögen und Einkommen anderer Haushaltsmitglieder nach der Reform leer ausgingen. Dennoch unterscheiden sich die beiden Gruppen hinsichtlich Ausbildung, Alter, Geschlecht und anderer Merkmale nicht stark. Daher seien "keine gravierenden Unterschiede in den Arbeitsmarktchancen" zwischen den Vergleichsgruppen zu erwarten, schreiben die Forscher.

Sie verglichen die Dauer der Erwerbslosigkeit von Arbeitslosen- oder Sozialhilfebeziehern, die zwischen Januar 2002 und Dezember 2004 arbeitslos wurden, mit der Entwicklung nach Inkrafttreten der Reform: bei Arbeitslosen, die zwischen Januar 2005 und Dezember 2007 ALG II bekamen. Die Stichprobe besteht aus 2.200 Personen für die erste und etwas weniger als 1.700 Personen für die zweite Gruppe.

Vor Hartz IV dauerte die Arbeitslosigkeit im Mittel 12 Monate. Nach einem Jahr hatten 49 Prozent der betrachteten Arbeitslosen entweder einen Job oder standen dem Arbeitsmarkt aus anderen Gründen nicht zur Verfügung, beispielsweise wegen Aus- und Weiterbildung, Mutterschaft oder weil sie das Rentenalter erreicht hatten. Im zweiten Jahr ging die Arbeitslosigkeit um weitere 20, im dritten noch einmal um 11 Prozentpunkte zurück. Damit waren nach vier Jahren noch 13 Prozent arbeitslos.

Nach der Hartz-IV-Reform dauerte die Arbeitslosigkeit im Mittel 13 Monate. Nach etwas über einem Jahr war für 50 Prozent der ALG-II-Bezieher die Arbeitslosigkeit beendet. Im Folgejahr sank der Anteil der Arbeitslosen um weitere 20, im Jahr darauf um 10 Prozentpunkte. Nach vier Jahren waren 16 Prozent weiterhin arbeitslos.

Fehr und Vobruba folgern: "Trotz des Versuchs, mit Maßnahmen der Aktivierungs- und verschärften Zumutbarkeits- und Sanktionsregelungen den Übergang vom Sozialleistungsbezug in die Erwerbstätigkeit zu forcieren, trat keine wesentliche Veränderung der Verweildauern von Sozialtransferbeziehern in Arbeitslosigkeit ein." Weitere Berechnungen, die Faktoren wie Alter, Bildungsabschluss oder regionale Arbeitslosenquote einbeziehen, zeigen: Das Ergebnis lässt sich nicht auf eine verschlechterte Arbeitsmarktsituation oder veränderte Zusammensetzung der Arbeitslosengruppe nach der Reform zurückführen.

Fehr und Vobruba haben eine andere Erklärung. Die Therapie konnte nicht wirken, weil die Diagnose falsch war. Sie schreiben, "das Armutsfallentheorem und die Sichtweise des öffentlichen Diskurses" stimmten darin überein, dass Armut ein Langzeitphänomen sei - einmal Sozialhilfe, immer Sozialhilfe. Diese unzutreffende Annahme sei dadurch befördert worden, dass der Armutsforschung lange Daten fehlten, die die Einkommensentwicklung personbezogen im Zeitverlauf abbilden. Tatsächlich machten die Beobachtungen der Autoren und andere neuere Studien aber deutlich, dass es bereits vor Hartz IV dem überwiegenden Teil der Arbeitslosen- und Sozialhilfebezieher gelang, aus der ­Arbeitslosigkeit herauszufinden. Daher stehe den durch die Reform möglicherweise entstandenen sozialen Kosten - Zunahme sozialer Ungleichheit, Ausbreitung prekärer Beschäftigung, Verletzung verbreiteter Gerechtigkeitsvorstellungen - "kein Nutzen gegenüber", urteilen die Forscher.

  • Arbeitslosen- oder Sozialhilfeempfänger brauchten nicht länger, um wieder einen Job zu finden, als die Arbeitslosengeld-II-Bezieher nach der Hartz-Reform. Zur Grafik

Sonja Fehr, Georg Vobruba: Die Arbeitslosigkeitsfalle vor und nach der Hartz-IV-Reform, in: WSI-Mitteilungen 5/2011

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