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Magazin Mitbestimmung

: Vom kurzen Traum zum langen Alptraum?

Ausgabe 09/2005

War der bundesdeutsche Traum ewiger Prosperität schon 1984 ausgeträumt, als der Soziologe Burkart Lutz konstatierte, dass sich die Wachstums- und Sozialstaatsdynamik entkoppeln? Erleben wir heute den langen Alptraum der Folgenbewältigung?

Von Wolfgang Streeck
Prof. Dr. Wolfgang Streeck ist Industriesoziologe und Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Er ist Mitglied der jüngst berufenen Regierungskommission zur Unternehmensmitbestimmung.

Dass Prosperität nicht ewig währt und die besten Zeiten vielleicht für immer vorbei sind, ist der Tenor einer heute weit verbreiteten deutschen Stimmungslage. Dies hat zweifellos dazu beigetragen, dass ein mehr als zwanzig Jahre altes Buch, dessen Titel die Wehmut des heute regierenden Zeitgeistes kurz und bündig zusammenzufassen scheint, wieder öffentliche Erwähnung findet.

Burkart Lutz' Prosperitätsbegriff ist der des "postwar settlement" der Bonner Republik - einer Periode, in der auch die Konservativen Sozialdemokraten waren und Wohlstand wie selbstverständlich nicht nur Wachstum bedeutete, sondern auch die beständige Ausweitung sozialer und sozialstaatlicher Inklusion, und zwar nicht als mildtätige Zugabe zum Funktionieren der Marktwirtschaft, sondern als dessen ökonomisch-funktionale ebenso wie politische Voraussetzung. Anders formuliert, Prosperität entstand aus dem Zusammenwirken zweier sich gegenseitig bedingender Dynamiken: einer Wachstums- und einer Sozialstaatsdynamik. Wobei die Expansion der modernen Wirtschaft mit der Expansion sozialer Bürgerrechte im Kontext des zum Wohlfahrtsstaat gewandelten Nationalstaats zusammenfiel.

Der Traum, den Lutz Anfang der 80er Jahre für beendet erklärte, war also der von einer politischen Ökonomie, die die unumgänglich gewordene gleichberechtigte Einbeziehung der Parteien und Organisationen der Industriearbeiterschaft in Politik und Gesellschaft der Nachkriegsdemokratien als Wachstumsmaschine nutzte und deren Ergebnisse zur weiteren Befestigung sozialer Rechte auf Gleichheit und Sicherheit und Teilhabe verwendete. Diese Konfiguration war es, die - entgegen der Träume der Sozialdemokraten aller Parteien - an ihre Grenzen gestoßen war. Was Lutz als einer der Ersten kommen sah, war die bevorstehende Entkoppelung der Wachstumsdynamik des modernen Kapitalismus von der Wohlfahrtsstaatsdynamik der demokratischen Politik der 50er und 60er Jahre. Mit ihr endete für Lutz die besondere Prosperität der Nachkriegsjahre.

Natürlich kann man den Begriff der Prosperität großzügiger fassen. So gibt es heute eine nicht geringe und wahrscheinlich wachsende Zahl von Bürgern unserer Gesellschaft, die erfolgreich ihren eigenen Traum von einer Prosperität träumen, die nicht mit sozialer Umverteilung bezahlt werden muss. Was etwa die Lenker deutscher Großunternehmen angeht, so dürften für ihre Einkommen die phänomenalen Wachstumsraten des Sozialprodukts der 60er Jahre bis heute unvermindert angehalten haben. Rudolf Hickel zufolge liegt derzeit die Relation zwischen dem Einkommen des durchschnittlichen Vorstandsmitglieds eines DAX-Unternehmens und dem eines durchschnittlichen Arbeitnehmers bei etwa 100 zu 1, während sie "in früheren Jahren … maximal das 20- bis 30fache" betragen habe, bei einem Anstieg der Durchschnittsvergütung zwischen 1997 und 2003 um nicht weniger als 81,3 Prozent.

Aus der Perspektive des Lutzschen "Traums" aber ist eine Gesellschaft, in der die Ungleichheit ebenso zunimmt wie die Zahl der Arbeitslosen, Armen und Personen ohne Kranken- oder Rentenversicherung, deren öffentlicher Sektor durch angebotspolitisch motivierte Steuersenkungen ausgehungert wird und deren Schulen und Universitäten schlechter werden statt besser, auch dann keine reiche Gesellschaft, wenn ihr Durchschnittseinkommen hoch ist und weiter zunimmt. Zumal Durchschnitte umso weniger besagen, je höher die Standardabweichung ist, und Gesellschaft nur dann als Einheit gedacht werden kann, wenn zwischen ihren Mitgliedern ein Mindestmaß an Gemeinsamkeit der Lebenslage besteht.

Die beherrschende Denkfigur der Lutzschen Krisentheorie von 1984 ist die von der Moderne, die ihre vormodernen Voraussetzungen konsumiert hat und nun Ersatz für sie schaffen muss. Das Wachstum der Nachkriegsjahre war durch kontinuierliche Absorption des traditionellen Sektors von Wirtschaft und Gesellschaft - von Land- und Hauswirtschaft - in den modernen, kapitalistischen Sektor zustande gekommen.

Diese wiederum war durch eine Reihe von institutionellen Innovationen - insbesondere den Wohlfahrtsstaat und das Tarifvertragssystem - möglich geworden, die einen bisher im Verhältnis der beiden Sektoren wirksam gewesenen negativen Rückkopplungsmechanismus, den Lutz das "Lohngesetz" nennt, außer Kraft gesetzt hatten. So konnte in den Nachkriegsjahren der Zufluss von Arbeitskräften aus dem traditionellen in den modernen Sektor den Lohn der Industriearbeiter nicht mehr drücken; das Lohnniveau im modernen Sektor konnte das Subsistenzniveau im traditionellen Sektor dauerhaft überbieten; die Unsicherheit der Marktwirtschaft schreckte nicht mehr vom Wechsel in die Industrie ab; und die dynamische Nachfrage der Arbeitnehmer im modernen Sektor nach Konsumgütern trat an die Stelle der Nachfrage des traditionellen Sektors nach Investitionsgütern.

Allerdings konnte ein so begründetes Wachstum nicht unbegrenzt weitergehen. Ende der 70er Jahre, so Lutz, war der traditionelle Sektor gänzlich im modernen aufgegangen und stand für weitere "Landnahme" nicht mehr zur Verfügung. Damit stellte sich der Gesellschaft die Aufgabe, eine neue "Prosperitätskonstellation" zu finden. 

 Ein Vierteljahrhundert nach der Entstehung des Buches vom "kurzen Traum" lässt sich feststellen, dass die endgültige Absorption der heimischen Subsistenzwirtschaft in den modernen Sektor der europäischen Nachkriegsgesellschaften nicht das Ende der kapitalistischen Landnahme war. Vielmehr ging diese, wie ich zeigen werde, sowohl im Inneren der Industriegesellschaften als auch, und zunehmend, über deren Grenzen hinweg in neuen Formen weiter - wobei sich die Funktionsweise des "Lohngesetzes" ebenso änderte wie die Mittel, mit denen es weiterhin suspendiert wurde.

Insbesondere der Wohlfahrtsstaat, so meine These, wurde für die Fortsetzung der kapitalistischen Expansion erneut entbehrlich. So kam, mit der Abkopplung der zunehmend globalen Wachstumsdynamik des modernen Kapitalismus von der Sozialstaatsdynamik innerhalb der alten Industriegesellschaften, das sozialdemokratische Prosperitätsmodell an sein Ende. Mit der historischen Ablösung des Problems des sozialen Ausgleichs innerhalb der reichen Gesellschaften des Westens von dem Problem der Sicherung kapitalistischen Wachstums begann der bis heute anhaltende Siegeszug eines neuen Liberalismus.

Die erste der "new frontiers" der kapitalistischen Landnahme nach der Entvölkerung der Dörfer war die Familie. Ab den 70er Jahren nahm in allen westlichen Industriegesellschaften die Erwerbstätigkeit der Frauen rapide zu. Anders als die Landflucht vor der Erfindung von Wohlfahrtsstaat und Tariflohn drückte die neue Wanderungsbewegung aus der Subsistenz- in die Geldwirtschaft auf den im modernen Sektor etablierten Lohnsatz. So wurde vor allem in den USA die wachsende Erwerbsbeteiligung der Frauen - und die dramatische Zunahme der am Arbeitsmarkt verkauften Arbeitsstunden insgesamt - zu einem erheblichen Teil durch einen Einbruch der Reallöhne der männlichen Alleinverdiener in Gang gebracht, der wiederum eng mit der in den 70er Jahren einsetzenden endgültigen Entgewerkschaftung der amerikanischen Arbeitswelt zusammenhing.

So endlich jedoch die Möglichkeiten weiterer Landnahme innerhalb der Grenzen des Nationalstaats sein mögen, so unbegrenzt erscheinen sie außerhalb derselben. Hier spätestens muss von jener "Globalisierung" die Rede sein, von der 1984 noch niemand sprach. Entscheidend für die sich abzeichnende, nicht-sozialdemokratische Lösung des Stagnationsproblems des entwickelten Kapitalismus war, so darf man vermuten, dessen 1984 nicht vorhersehbare schlagartige Erweiterung zu einem nunmehr tatsächlich weltumspannenden Produktions- und Konsumzusammenhang, insbesondere durch die Einbeziehung der Gebiete des untergegangenen Sowjet-Kommunismus und des nachrevolutionären China.

Wenn man so will, waren es Michael Gorbatschow und die Testamentsvollstrecker Deng Hsiao Pengs, die dem kapitalistischen Expansionsdrang Ende der 80er Jahre freien Zugang zu nicht nur praktisch unbegrenzten, sondern auch begierig auf Erschließung wartenden Landreserven verschafften. Zusammen mit den fortgeschrittenen Informations- und Transporttechnologien der 90er Jahre, mit deren Hilfe Produktionsprozesse auch über weite Entfernungen hinweg zuverlässig koordiniert und Güter und Arbeitskräfte nahezu beliebig verschoben werden können, haben sie es dem westlichen Kapitalismus ermöglicht, den ohnehin nahezu aufgebrauchten traditionellen Sektor in seinem Inneren durch einen externen traditionellen Sektor zu ersetzen. Dessen weltweite Dimensionen dürften ausreichen, mindestens eine weitere "lange Welle" kapitalistischer Expansion mit sozialem Brennstoff zu versorgen.

Und die kapitalistische Landnahme kann wieder wie früher ohne begleitende Expansion des Sozialstaats vorangehen. Noch mehr als die Frauen im Inneren der westlichen Gesellschaften drängen die Arbeitskräfte des ehemaligen Sowjetblocks und Chinas zu Löhnen in den nunmehr weltweiten, nicht mehr durch nationalstaatliche Grenzen segmentierten Arbeitsmarkt, die weit unter denen der alten Industriearbeiterschaft liegen. Wie die Arbeitslosen der Weltwirtschaftskrise der 20er Jahre nehmen sie jede Arbeit an, ohne dass ihr Arbeits-, Lern- und Aufstiegswille hinter dem der Söhne der Handwerker und Bauern Europas zurückbliebe, die das Wirtschaftswachstum der Nachkriegsjahre ermöglicht haben.

Im Gegenteil stammen immer mehr von ihnen aus Gesellschaften, in denen Bildung und Wissen traditionell hoch geschätzt wird, und oft höher als in den zu Konsumgesellschaften mutierten Industrieländern des alten Westens. Trotz ihrer hohen Qualifikation ist der Reservationslohn der neuen Arbeitnehmer, vom Westen aus betrachtet, unendlich niedrig, während ihre Zahl für alle praktischen Zwecke unendlich groß ist, und auch ihre "Flexibilität" ist im Vergleich zu der der westlichen Arbeitnehmer unbegrenzt: Konjunkturkrisen überdauern sie in der Weite der subsistenzwirtschaftlichen Dörfer, aus der sie gekommen sind und in die sie noch lange werden zurückkehren können. Nicht zuletzt fehlen ihnen in den Gesellschaften des Westens, zu deren exterritorialer Reservearmee sie geworden sind, alle politischen Rechte, die es ihnen ermöglichen würden, ihre Inklusion in den Arbeitsmarkt zur Grundlage von Ansprüchen auf soziale Inklusion zu machen.

Welche weltweiten Institutionen die post-sozialdemokratische "Prosperitätskonstellation" des 21. Jahrhunderts genau benötigt, ist alles andere als klar. In diesem Sinne ist die von Lutz und anderen konstatierte Krise des modernen Kapitalismus noch keineswegs beendet. Grundzüge der sich herausbildenden Ordnung sind jedoch schon heute erkennbar, und sie ähneln kaum dem, was manchmal als "europäisches Sozialmodell" gehandelt wird. Das Regime der WTO spielt eine zentrale Rolle zusammen mit weiteren Arrangements für "global governance", die schon durch ihre Konstruktion von vornherein fast gänzlich auf die Schaffung offener Märkte festgelegt sind.

Hinzu kommen "humanitäre Interventionen" rechtlicher wie militärischer Art zur "Demokratisierung" von Staaten, deren Innenpolitik aus welchen Gründen auch immer eine Barriere für den freien Verkehr von Gütern, Personen und Kapital, für die gesicherte weltweite Ausbreitung kapitalistischer Eigentumsformen und die reibungslose Koordinierung globaler Produktionsketten bilden könnte, sowie Kredite an potenziell zahlungsfähige Länder zur Sicherung weltweiter Nachfrage.

Die Kritik von Intellektuellen und Organisationen wie Attac darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine liberale Weltinnenpolitik dieser Art über eine breite Massenbasis verfügt, auch und gerade in den Ländern der neu erschlossenen Peripherie und keineswegs nur bei deren Mittelschichten. Vor die Wahl gestellt zwischen ihrer Einbeziehung in weltweite Arbeits- und Gütermärkte einerseits und der Verteidigung kollektiver politischer Autonomie in tendenziell autoritären Staaten um den Preis wirtschaftlicher Rückständigkeit andererseits dürften auch und gerade unter den Ärmsten der Armen nur wenige dem geheimen Charme von Kapitalismus und liberaler Demokratie widerstehen wollen.

Die schlechtesten Karten jedenfalls haben die traditionelle Arbeitnehmerschaft der alten Industriegesellschaften und ihre Erben. Sie werden zur absinkenden Klasse des globalen Neo-Kapitalismus. Appelle ihrer Organisationen an die neue Konkurrenz auf den nunmehr weltweiten Arbeitsmärkten, aus internationaler Solidarität den Preis ihrer Arbeitskraft auf das Niveau Westeuropas oder Amerikas zu erhöhen, verhallen ungehört. So nimmt die Intensität des internationalen Wettbewerbs um Arbeitsplätze und Produktionsstätten ständig zu. In der Konkurrenz mit dem unbegrenzten und unbegrenzt billigen Arbeitsangebot der Schwellenländer bleibt der Arbeiter- und Angestelltenklasse des industrialisierten Westens nur die ständige Verbesserung ihrer Marktfähigkeit - ihrer "employability" - durch immer weitere Aufqualifizierung. Die aber beherrschen auch ihre Konkurrenten, insbesondere die in Asien und Osteuropa.

Da die Wanderung der Produktionsstätten und zunehmend wohl auch der Konstruktionsabteilungen nach Osten wegen der im Westen bereits getätigten Investitionen nur allmählich vonstatten geht, kann die Politik der westlichen Demokratien sich und ihrer Klientel noch eine Zeitlang einreden, dass die Wanderung irgendwann zum Stillstand kommen wird. In der Zwischenzeit aber wächst die Kluft zwischen denen, die ihren Produktivitätsvorteil und ihren Lebensstandard durch Hinzulernen zu verteidigen vermögen, und denen, die im Rennen um internationale Wettbewerbsvorteile nicht mithalten können.

Ob die neuen Eliten jemals bereit sein werden, ihren politischen Einfluss zur Sicherung des sozialen Status einer wachsenden Zahl aussortierter "loosers" einzusetzen, darf bezweifelt werden; dem wettbewerbsorientierten Sozialcharakter, den die Zeit hervorbringt und prämiiert, wäre dies eher wesensfremd. Was sich abzeichnet, ist eine allgemeine Tendenz, den Wohlfahrtsstaat, dessen funktionaler Beitrag zur Stabilisierung von Arbeitsangebot und Güternachfrage entbehrlich geworden ist, zum Instrument einer investiven Sozialpolitik umzuschmieden, die vor allem dazu dienen soll, die Wettbewerbsfähigkeit der Wettbewerbsfähigen zu verbessern.

Als Folge stürzen die Preise für einfache Arbeit in den Ländern des alten Westens und nimmt die Ungleichheit der Einkommen in einer immer stärker marktgetriebenen Lohnstruktur zu. Am Beginn des 21. Jahrhunderts beginnt ein neues globales Akkumulationsregime zu tragen, unter dessen Bedingungen die erworbenen Statusrechte und eingelebten Ansprüche der Nutznießer des demokratischen Kapitalismus immer unrealistischer werden.

Die sich herausbildende neue Prosperitätskonstellation könnte im Übrigen Legitimität und womöglich politische Stabilität daraus beziehen, dass das von ihr getragene wirtschaftliche Wachstum mit einem Zuwachs an sozialer Gleichheit einhergeht. Während freilich in der "neuen Geografie der globalen Einkommensverteilung" die Ungleichheit in den reichen Gesellschaften des Westens zunimmt, geht die Ungleichheit zwischen den Gesellschaften, vor allem zwischen dem Westen und Asien, langfristig zurück. Staatsgrenzen begrenzen heute vielleicht noch Gesellschaften; Märkte aber und die von ihnen ausgehenden Umwälzungen der Sozialstruktur begrenzen sie nicht mehr. Wie könnte es auch anders sein in einer globalen Ökonomie ohne globalen Staat?

Allerdings gilt ebenso: Die Entnationalisierung der Wirtschaft geht mit dem Verlust oder doch einer profunden Gefährdung einer Reihe von zivilisatorischen Errungenschaften einher, mit deren Hilfe es im Wohlfahrtsstaat der Nachkriegsphase gelang, das Leben der Menschen und ihrer Gemeinschaften im Kapitalismus wenigstens teilweise gegen die unberechenbaren Schwankungen selbstregulierender Märkte abzusichern. Nichts spricht dafür, dass dieser Verlust in absehbarer Zeit auf supranationaler Ebene ausgeglichen werden könnte.

Die gängigen Rezepte für die Anpassung des europäischen Wohlfahrtsstaats an die neuen Bedingungen laufen denn auch auf eine historisch beispiellose Reorganisation sowohl der Politik als auch der individuellen Lebensweise nach dem Modell riskanten und - notwendigerweise - wagemutigen Unternehmertums hinaus. Auch dies wäre eine neue Art von Landnahme: von fortschreitender Durchkapitalisierung der Gesellschaft in Gestalt einer tendenziellen Verwandlung des Arbeitnehmers in einen unternehmerisch handelnden Humankapitalbesitzer.

Um Max Weber zu paraphrasieren: Das unternehmerische Virtuosentum wandert aus den Chefetagen des industriellen Zeitalters in die Welt und wird zur allgemeinen Lebensform. Wie viele Gesellschaftsmitglieder damit zurechtkommen werden und wie viele nicht, weiß niemand. Dennoch scheint es eine Alternative nicht zu geben. In Deutschland allerdings mit seinem bismarckschen Sozialstaat und einem blockierten, "halbsouveränen" politischen System bedeutet Strukturwandel derzeit vor allem hohe Arbeitslosigkeit, fortschreitenden Abbau sozialer Sicherung trotz aggressiver Verteidigung schwindender Besitzstände, Austrocknung des öffentlichen Sektors als Folge von Steuerkonkurrenz und Haushaltskonsolidierung sowie sinkende Realeinkommen in einer sich polarisierenden Einkommensstruktur. Aber vielleicht muss das ja nicht so bleiben.

Zu Ehren von Burkart Lutz

Dieser Artikel reflektiert das 1984 erschienene Buch "Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine Neuinterpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung im Europa des 20. Jahrhunderts". Verfasst hat es der Soziologe Burkart Lutz, der Ende Mai in Halle zu seinem 80. Geburtstag mit einem wissenschaftlichen Kolloquium gewürdigt wurde. Die Festrede, die Wolfgang Streeck hielt, geben wir hier gekürzt wieder. Den kompletten Beitrag mit Literaturverweisen finden Sie im Netz unter www.mpi-fg-koeln.mpg.de/pu/workpap/wp05-5/wp05-5.html.
Lesenswert auch ein Interview mit Burkart Lutz in der Neuen Gesellschaft unter http://www.frankfurter-hefte.de/ (Archiv 1+2/2005)

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