Projektbeschreibung
Kontext
Anlass für das Projekt war die Finanz- und Wirtschaftskrise ab 2007, welche auch als Krise der ökonomischen Wissenschaft interpretiert werden kann. Hier kollidierte die empirisch erfahrbare Realität mit dem Postulat einer Selbstregulierung der Märkte, welches im fast schon monokulturell dominanten Mainstream-Paradigma des D(ynamic)-S(tochastic)-G(eneral)-E(quilibrium)-Modells vertreten wird. Daher wurden Profil und Ausrichtung der Wirtschaftswissenschaften kritisch hinterfragt. Denn die universitäre Ökonomie formt das Wissen über die Wirtschaft innerhalb der Gesellschaft entscheidend mit - in entsprechenden Gremien, in denen wirtschaftspolitische Entscheidungen getroffen werden ebenso wie über Medien oder die Wissensvermittlung an Studierende. Die derzeitige monolithische Aufstellung der Ökonomen - so die Ausgangsthese - wird sich, ebenso wie die Marginalisierung der sogenannte heterodoxen Ökonomie, quantitativ als auch netzwerkanalytisch zeigen lassen.
Fragestellung
Kernfragen waren:
1) Wie hat sich die VWL ab 1945 im deutschsprachigen Raum mit welchen hauptsächlichen Ausrichtungen entwickelt? Welches waren die zentralen Ausgangsnetzwerke?
2) Welche zentralen Akteure wirkten in der Zeit ab 1945 in welchen Netzwerken (Wissenschaft, Medien, Politik, Gremien usw.)?
3) Wie erfolgten die "Schulen"-Entwicklungen? Wie sahen insbesondere die "Lieferbeziehungen" sowie Exklusions- und Inklusionsmechanismen an den Universitätsstandorten aus?
4) Wie entstanden heterodoxe Denkströmungen und wie wurden sie exkludiert? Warum konnte die Marginalisierung der heterodoxen Ökonomie trotz Formierung eigener Strukturen nicht aufgehalten werden?
5) Welche Handlungsempfehlungen folgen aus den Analyseergebnissen; z.B. hinsichtlich der Förderung von Pluralität, Bündelung heterodoxer Ansätze und Verhinderung selbstreferenzieller Verstärkungsprozesse in monolithischen Strukturen?
Untersuchungsmethoden
Im Projekt kamen mehrere Methoden zum Einsatz:
1) Thematische Analyse: Bei der thematischen Analyse geht es um die Analyse der axiomatischen Struktur der verschiedenen Paradigmen sowie eine epistemologische Auseinandersetzung.
2) Quantitative Erhebung: Erhebung aller (universitären) makroökonomisch ausgerichteter ÖkonomInnen an entsprechenden wirtschaftswissenschaftlichen Institutionen mit ihren wesentlichen Daten (Promotion, Habilitation, Betreuer, Karrierestationen usw.), für die heterodoxen ÖkonomInnen erfolgte zusätzlich eine teilstandardisierte Befragung.
3) Netzwerkanalyse: Auf Basis der erfassten personenbezogenen Daten der professoralen Vertreter wurden netzwerkbasiert die akteursbezogenen, institutionsbezogenen sowie die "Lieferbeziehungen" zwischen den Universitäten ab 1945 sowie Abwanderungen, Versiegungsprozesse usw. analysiert und visualisiert.
Darstellung der Ergebnisse
Zentrale Ergebnisse zur Entwicklung der Ökonomie in Deutschland ab 1945 sind:
- Die Entwicklungen ab 1945 resultieren - konträr zur These einer nachgeholten Amerikanisierung - aus schon vor 1945 bestehenden Netzwerken ordoliberal und später zunehmend marktradikal ausgerichteter Akteure mit ihren Netzwerken.
- Die quantitative Ausweitung der Universitäten und gleichzeitigen Reformbestrebungen ab den 70er Jahren waren für heterodoxe ÖkonomInnen vor allem dort eine Chance, wo man auf eine "Kultur der Öffnung", innere Organisationsdemokratie und externe politische Unterstützung traf (z.B. Uni Frankfurt, FU Berlin). An Dreiviertel aller deutschen Universitäten mit wirtschaftswissenschaftlichen Fakultäten bzw. Fachbereichen waren heterodoxe ÖkonomInnen hingegen fast überhaupt nicht vertreten.
- Insbesondere hinsichtlich der Kategorie der eigenen "Reproduktion" befanden sich die heterodoxen ÖkonomInnen nicht auf Augenhöhe mit den Mainstream-VertreterInnen. Hinzu kamen ungleiche Ausstattung, ungleicher Zugang zu Drittmitteln und renommierten Fachzeitschriften. Letztlich lässt sich daher hier von einem disziplinären "brain drain" der heterodoxen Wirtschaftswissenschaften sprechen.